Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 20. Wissenschaftliches Recht. Fortsetzung.
eben so aber auch, wer seine Einbildungen der neueren
Praxis unterschiebt, und ihr eine durchgeführte Selbststän-
digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben.
Beiden ist Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein
erstorbenes Stück der Geschichte als lebend behandelt:
Diesem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit
ansieht.

Derjenige Bestandtheil des praktischen Rechts, welchen
ich als den gesunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere
Wichtigkeit, als welche oben der theoretischen Arbeit zu-
geschrieben worden ist. Er wirkt nicht blos als eine Ach-
tung gebietende Autorität, sondern er schließt in Wahrheit
neu gebildetes Recht in sich. Dennoch können wir auch
ihm kein abgeschlossenes, unabänderliches Daseyn zuerken-
nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretischen Prü-
fung, indem einem solchen Satz des praktischen Rechts
die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge-
wiesen würde, kann die Gültigkeit desselben nicht entkräf-
tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein
selbstständiges Daseyn gewonnen hat. Das aber ist
nicht zu bezweifeln, daß es auf demselben Wege, auf
welchem es entstand, auch wiederum seine Gültigkeit ver-
lieren kann.

Häufig hat man den Einfluß des praktischen Rechts
noch auf ganz andere Weise aufgefaßt, indem man be-
hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Aussprüche eines
Gerichts werde dasselbe verbunden, die von ihm befolgte

§. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung.
eben ſo aber auch, wer ſeine Einbildungen der neueren
Praxis unterſchiebt, und ihr eine durchgeführte Selbſtſtän-
digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben.
Beiden iſt Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein
erſtorbenes Stück der Geſchichte als lebend behandelt:
Dieſem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit
anſieht.

Derjenige Beſtandtheil des praktiſchen Rechts, welchen
ich als den geſunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere
Wichtigkeit, als welche oben der theoretiſchen Arbeit zu-
geſchrieben worden iſt. Er wirkt nicht blos als eine Ach-
tung gebietende Autorität, ſondern er ſchließt in Wahrheit
neu gebildetes Recht in ſich. Dennoch können wir auch
ihm kein abgeſchloſſenes, unabänderliches Daſeyn zuerken-
nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretiſchen Prü-
fung, indem einem ſolchen Satz des praktiſchen Rechts
die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge-
wieſen würde, kann die Gültigkeit deſſelben nicht entkräf-
tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein
ſelbſtſtändiges Daſeyn gewonnen hat. Das aber iſt
nicht zu bezweifeln, daß es auf demſelben Wege, auf
welchem es entſtand, auch wiederum ſeine Gültigkeit ver-
lieren kann.

Häufig hat man den Einfluß des praktiſchen Rechts
noch auf ganz andere Weiſe aufgefaßt, indem man be-
hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Ausſprüche eines
Gerichts werde daſſelbe verbunden, die von ihm befolgte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0151" n="95"/><fw place="top" type="header">§. 20. Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches Recht. Fort&#x017F;etzung.</fw><lb/>
eben &#x017F;o aber auch, wer &#x017F;eine Einbildungen der neueren<lb/>
Praxis unter&#x017F;chiebt, und ihr eine durchgeführte Selb&#x017F;t&#x017F;tän-<lb/>
digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben.<lb/>
Beiden i&#x017F;t Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein<lb/>
er&#x017F;torbenes Stück der Ge&#x017F;chichte als lebend behandelt:<lb/>
Die&#x017F;em, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit<lb/>
an&#x017F;ieht.</p><lb/>
            <p>Derjenige Be&#x017F;tandtheil des prakti&#x017F;chen Rechts, welchen<lb/>
ich als den ge&#x017F;unden bezeichnet habe, hat eine ganz andere<lb/>
Wichtigkeit, als welche oben der theoreti&#x017F;chen Arbeit zu-<lb/>
ge&#x017F;chrieben worden i&#x017F;t. Er wirkt nicht blos als eine Ach-<lb/>
tung gebietende Autorität, &#x017F;ondern er &#x017F;chließt in Wahrheit<lb/>
neu gebildetes Recht in &#x017F;ich. Dennoch können wir auch<lb/>
ihm kein abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes, unabänderliches Da&#x017F;eyn zuerken-<lb/>
nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoreti&#x017F;chen Prü-<lb/>
fung, indem einem &#x017F;olchen Satz des prakti&#x017F;chen Rechts<lb/>
die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge-<lb/>
wie&#x017F;en würde, kann die Gültigkeit de&#x017F;&#x017F;elben nicht entkräf-<lb/>
tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändiges Da&#x017F;eyn gewonnen hat. Das aber i&#x017F;t<lb/>
nicht zu bezweifeln, daß es auf dem&#x017F;elben Wege, auf<lb/>
welchem es ent&#x017F;tand, auch wiederum &#x017F;eine Gültigkeit ver-<lb/>
lieren kann.</p><lb/>
            <p>Häufig hat man den Einfluß des prakti&#x017F;chen Rechts<lb/>
noch auf ganz andere Wei&#x017F;e aufgefaßt, indem man be-<lb/>
hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Aus&#x017F;prüche eines<lb/>
Gerichts werde da&#x017F;&#x017F;elbe verbunden, die von ihm befolgte<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0151] §. 20. Wiſſenſchaftliches Recht. Fortſetzung. eben ſo aber auch, wer ſeine Einbildungen der neueren Praxis unterſchiebt, und ihr eine durchgeführte Selbſtſtän- digkeit andichtet, woran ihre Urheber nicht gedacht haben. Beiden iſt Aberglaube vorzuwerfen: Jenem, indem er ein erſtorbenes Stück der Geſchichte als lebend behandelt: Dieſem, indem er den eigenen Wahn als Wirklichkeit anſieht. Derjenige Beſtandtheil des praktiſchen Rechts, welchen ich als den geſunden bezeichnet habe, hat eine ganz andere Wichtigkeit, als welche oben der theoretiſchen Arbeit zu- geſchrieben worden iſt. Er wirkt nicht blos als eine Ach- tung gebietende Autorität, ſondern er ſchließt in Wahrheit neu gebildetes Recht in ſich. Dennoch können wir auch ihm kein abgeſchloſſenes, unabänderliches Daſeyn zuerken- nen. Zwar auf dem Wege einer blos theoretiſchen Prü- fung, indem einem ſolchen Satz des praktiſchen Rechts die Abweichung von dem quellenmäßigen Recht nachge- wieſen würde, kann die Gültigkeit deſſelben nicht entkräf- tet werden, da es als wahres Gewohnheitsrecht ein ſelbſtſtändiges Daſeyn gewonnen hat. Das aber iſt nicht zu bezweifeln, daß es auf demſelben Wege, auf welchem es entſtand, auch wiederum ſeine Gültigkeit ver- lieren kann. Häufig hat man den Einfluß des praktiſchen Rechts noch auf ganz andere Weiſe aufgefaßt, indem man be- hauptet hat, durch mehrere gleichförmige Ausſprüche eines Gerichts werde daſſelbe verbunden, die von ihm befolgte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/151
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/151>, abgerufen am 04.12.2024.