letzte Ziel der Wissenschaft zu richten, in Vergleichung mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei- sten vermag, als unvollkommen erscheinen muß.
Wenn uns aber die durch viele Geschlechter fortge- setzte Ausbildung unsrer Wissenschaft einen reichen Ge- winn darbietet, so entspringen uns ebendaher auch ei- genthümliche große Gefahren. In der Masse von Be- griffen, Regeln und Kunstausdrücken, die wir von un- sren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge- wonnenen Wahrheit ein starker Zusatz von Irrthum beygemischt seyn, der mit der traditionellen Macht ei- nes alten Besitzstandes auf uns einwirkt und leicht die Herrschaft über uns gewinnen kann. Um dieser Ge- fahr zu begegnen, müssen wir wünschen, daß von Zeit zu Zeit die ganze Masse des Überlieferten neu geprüft, in Zweifel gezogen, um seine Herkunft befragt werde. Dieses geschieht, indem wir uns künstlich in die Lage versetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei- nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerstrebenden mitzu- theilen. Die angemessene Stimmung für eine solche prüfende Arbeit ist die der geistigen Freyheit, der Unab- hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieses Frey- heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil- same Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürliche
Vorrede.
letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei- ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.
Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge- ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge- winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei- genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be- griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un- ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge- wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei- nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge- fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft, in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde. Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei- nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu- theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab- hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey- heitsgefühl nicht in Übermuth ausarte, muß das heil- ſame Gefühl der Demuth hinzutreten, die natürliche
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[XI/0017]
Vorrede.
letzte Ziel der Wiſſenſchaft zu richten, in Vergleichung
mit welchem auch das Größte, das der Einzelne zu lei-
ſten vermag, als unvollkommen erſcheinen muß.
Wenn uns aber die durch viele Geſchlechter fortge-
ſetzte Ausbildung unſrer Wiſſenſchaft einen reichen Ge-
winn darbietet, ſo entſpringen uns ebendaher auch ei-
genthümliche große Gefahren. In der Maſſe von Be-
griffen, Regeln und Kunſtausdrücken, die wir von un-
ſren Vorgängern empfangen, wird unfehlbar der ge-
wonnenen Wahrheit ein ſtarker Zuſatz von Irrthum
beygemiſcht ſeyn, der mit der traditionellen Macht ei-
nes alten Beſitzſtandes auf uns einwirkt und leicht die
Herrſchaft über uns gewinnen kann. Um dieſer Ge-
fahr zu begegnen, müſſen wir wünſchen, daß von Zeit
zu Zeit die ganze Maſſe des Überlieferten neu geprüft,
in Zweifel gezogen, um ſeine Herkunft befragt werde.
Dieſes geſchieht, indem wir uns künſtlich in die Lage
verſetzen, als hätten wir das überlieferte Material ei-
nem Unkundigen, Zweifelnden, Widerſtrebenden mitzu-
theilen. Die angemeſſene Stimmung für eine ſolche
prüfende Arbeit iſt die der geiſtigen Freyheit, der Unab-
hängigkeit von aller Autorität; damit aber dieſes Frey-
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/17>, abgerufen am 03.12.2024.
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