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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerspruch. Fortsetzung.
an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaisers
oder eines Juristen) der älteren vorgehen. Diese, aller-
dings einfache und bequeme, Behandlung läßt sich schon
nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht-
fertigen: ganz bestimmt aber widerspricht ihr Justinian
selbst, indem er namentlich für die Digesten erklärt, daß
jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als
Kaisergesetz, betrachtet werden solle (i). -- Dagegen läßt
sich die historische Vereinigung völlig rechtfertigen, sobald
für die Aufnahme der älteren Stelle ein historischer Zweck
wahrscheinlich gemacht werden kann: sie wird dann der
neueren nachgesetzt, nicht weil sie älter ist, sondern weil
sie gar nicht die Bestimmung hatte, unmittelbar angewen-
det zu werden (k). Ein solcher historischer Zweck aber
kann auf zweyerley Weise vorkommen. Erstlich wegen der
zur Zeit der Compilation schon bestehenden Rechtsverhält-
nisse, indem diese noch nach den älteren Gesetzen entschie-
den werden mußten (l). Zweytens, was wichtiger ist, und

(i) L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20.
C. de vet. j. en. (1. 17.). -- L. 1.
§ 6 cit.
sagt: "omnia enim me-
rito nostra facimus;"
ähnlich
reden die anderen Stellen. --
Allerdings sollen diese Äußerun-
gen zunächst den scharfen Gegen-
satz gegen das bis dahin geltende
Gesetz von Valentinian III. (§ 26)
ausdrücken, damit man nicht etwa
Stellen des Julian in den Dige-
sten geringer achte, als Stellen
des Ulpian: allein die Regel selbst
ist so allgemein, daß sie eben so
gut den Vorzug der neueren Stel-
len vor den älteren, gegründet
auf diese bloße Zeitverschieden-
heit, ausschließt.
(k) Sehr befriedigend ist die-
ser Punkt ausgeführt von Löhr
a. a. O., S. 180. 189 -- 197.
(l) An sich war es für diesen
Zweck nicht eben nothwendig, äl-
tere Stücke, die auf künftige
Fälle nicht mehr angewendet wer-
den sollten, in die Rechtsbücher

§. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung.
an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaiſers
oder eines Juriſten) der älteren vorgehen. Dieſe, aller-
dings einfache und bequeme, Behandlung läßt ſich ſchon
nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht-
fertigen: ganz beſtimmt aber widerſpricht ihr Juſtinian
ſelbſt, indem er namentlich für die Digeſten erklärt, daß
jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als
Kaiſergeſetz, betrachtet werden ſolle (i). — Dagegen läßt
ſich die hiſtoriſche Vereinigung völlig rechtfertigen, ſobald
für die Aufnahme der älteren Stelle ein hiſtoriſcher Zweck
wahrſcheinlich gemacht werden kann: ſie wird dann der
neueren nachgeſetzt, nicht weil ſie älter iſt, ſondern weil
ſie gar nicht die Beſtimmung hatte, unmittelbar angewen-
det zu werden (k). Ein ſolcher hiſtoriſcher Zweck aber
kann auf zweyerley Weiſe vorkommen. Erſtlich wegen der
zur Zeit der Compilation ſchon beſtehenden Rechtsverhält-
niſſe, indem dieſe noch nach den älteren Geſetzen entſchie-
den werden mußten (l). Zweytens, was wichtiger iſt, und

(i) L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20.
C. de vet. j. en. (1. 17.). — L. 1.
§ 6 cit.
ſagt: „omnia enim me-
rito nostra facimus;”
ähnlich
reden die anderen Stellen. —
Allerdings ſollen dieſe Äußerun-
gen zunächſt den ſcharfen Gegen-
ſatz gegen das bis dahin geltende
Geſetz von Valentinian III. (§ 26)
ausdrücken, damit man nicht etwa
Stellen des Julian in den Dige-
ſten geringer achte, als Stellen
des Ulpian: allein die Regel ſelbſt
iſt ſo allgemein, daß ſie eben ſo
gut den Vorzug der neueren Stel-
len vor den älteren, gegründet
auf dieſe bloße Zeitverſchieden-
heit, ausſchließt.
(k) Sehr befriedigend iſt die-
ſer Punkt ausgeführt von Löhr
a. a. O., S. 180. 189 — 197.
(l) An ſich war es für dieſen
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tere Stücke, die auf künftige
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[277/0333] §. 44. Rechtsquellen als Ganzes. Widerſpruch. Fortſetzung. an, und ließen überall die neuere Stelle (eines Kaiſers oder eines Juriſten) der älteren vorgehen. Dieſe, aller- dings einfache und bequeme, Behandlung läßt ſich ſchon nach dem allgemeinen Plane der Rechtsbücher nicht recht- fertigen: ganz beſtimmt aber widerſpricht ihr Juſtinian ſelbſt, indem er namentlich für die Digeſten erklärt, daß jede aufgenommene Stelle als von ihm ausgegangen, als Kaiſergeſetz, betrachtet werden ſolle (i). — Dagegen läßt ſich die hiſtoriſche Vereinigung völlig rechtfertigen, ſobald für die Aufnahme der älteren Stelle ein hiſtoriſcher Zweck wahrſcheinlich gemacht werden kann: ſie wird dann der neueren nachgeſetzt, nicht weil ſie älter iſt, ſondern weil ſie gar nicht die Beſtimmung hatte, unmittelbar angewen- det zu werden (k). Ein ſolcher hiſtoriſcher Zweck aber kann auf zweyerley Weiſe vorkommen. Erſtlich wegen der zur Zeit der Compilation ſchon beſtehenden Rechtsverhält- niſſe, indem dieſe noch nach den älteren Geſetzen entſchie- den werden mußten (l). Zweytens, was wichtiger iſt, und (i) L. 1 § 5. 6. L. 2 § 10. 20. C. de vet. j. en. (1. 17.). — L. 1. § 6 cit. ſagt: „omnia enim me- rito nostra facimus;” ähnlich reden die anderen Stellen. — Allerdings ſollen dieſe Äußerun- gen zunächſt den ſcharfen Gegen- ſatz gegen das bis dahin geltende Geſetz von Valentinian III. (§ 26) ausdrücken, damit man nicht etwa Stellen des Julian in den Dige- ſten geringer achte, als Stellen des Ulpian: allein die Regel ſelbſt iſt ſo allgemein, daß ſie eben ſo gut den Vorzug der neueren Stel- len vor den älteren, gegründet auf dieſe bloße Zeitverſchieden- heit, ausſchließt. (k) Sehr befriedigend iſt die- ſer Punkt ausgeführt von Löhr a. a. O., S. 180. 189 — 197. (l) An ſich war es für dieſen Zweck nicht eben nothwendig, äl- tere Stücke, die auf künftige Fälle nicht mehr angewendet wer- den ſollten, in die Rechtsbücher

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/333>, abgerufen am 25.11.2024.