nicht haben. Die wichtigste unter allen diesen Regeln ist unstreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von Justinian finden (§ 47. 48); sie sagt uns ganz deutlich, wie wir auslegen sollen, nämlich gar nicht. Gerade diese wichtigste Regel aber können wir als Gesetz aus zwey Gründen nicht anerkennen.
Erstens weil sie in unzertrennlicher Verbindung steht mit Justinians Verbot, juristische Bücher zu schreiben (§ 26). Diese Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und Zweck beider Vorschriften, sondern auch aus ihrer Fas- sung, indem sie in der neueren Verordnung unmittelbar neben einander stehen, und zwar so, daß die eine als Folge und nähere Bestimmung der anderen ausgedrückt wird. Da nun das Verbot der rechtswissenschaftlichen Bücher als Gesetz für uns nicht gilt (§ 27), so kann auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir dieses, herausgerissen aus seinem Zusammenhang, einzeln gelten lassen, so wäre es ja in der That nicht mehr Ju- stinians Vorschrift, sondern etwas das wir daraus will- kührlich gemacht hätten, und worin sich blos der wört- liche Schein seiner Vorschrift wiederfände.
Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa schwierig, sondern völlig unmöglich ist. Denn Justinian macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiser- liche Rescripte, eine solche Anstalt aber findet sich in kei- nem neueren Staate. Man täusche sich nicht durch die
Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
nicht haben. Die wichtigſte unter allen dieſen Regeln iſt unſtreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von Juſtinian finden (§ 47. 48); ſie ſagt uns ganz deutlich, wie wir auslegen ſollen, nämlich gar nicht. Gerade dieſe wichtigſte Regel aber können wir als Geſetz aus zwey Gründen nicht anerkennen.
Erſtens weil ſie in unzertrennlicher Verbindung ſteht mit Juſtinians Verbot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26). Dieſe Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und Zweck beider Vorſchriften, ſondern auch aus ihrer Faſ- ſung, indem ſie in der neueren Verordnung unmittelbar neben einander ſtehen, und zwar ſo, daß die eine als Folge und nähere Beſtimmung der anderen ausgedrückt wird. Da nun das Verbot der rechtswiſſenſchaftlichen Bücher als Geſetz für uns nicht gilt (§ 27), ſo kann auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir dieſes, herausgeriſſen aus ſeinem Zuſammenhang, einzeln gelten laſſen, ſo wäre es ja in der That nicht mehr Ju- ſtinians Vorſchrift, ſondern etwas das wir daraus will- kührlich gemacht hätten, und worin ſich blos der wört- liche Schein ſeiner Vorſchrift wiederfände.
Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa ſchwierig, ſondern völlig unmöglich iſt. Denn Juſtinian macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiſer- liche Reſcripte, eine ſolche Anſtalt aber findet ſich in kei- nem neueren Staate. Man täuſche ſich nicht durch die
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Buch I. Quellen. Kap. IV. Auslegung der Geſetze.
nicht haben. Die wichtigſte unter allen dieſen Regeln iſt
unſtreitig die, welche wir in beiden Verordnungen von
Juſtinian finden (§ 47. 48); ſie ſagt uns ganz deutlich,
wie wir auslegen ſollen, nämlich gar nicht. Gerade dieſe
wichtigſte Regel aber können wir als Geſetz aus zwey
Gründen nicht anerkennen.
Erſtens weil ſie in unzertrennlicher Verbindung ſteht
mit Juſtinians Verbot, juriſtiſche Bücher zu ſchreiben (§ 26).
Dieſe Verbindung erhellt nicht blos aus dem Inhalt und
Zweck beider Vorſchriften, ſondern auch aus ihrer Faſ-
ſung, indem ſie in der neueren Verordnung unmittelbar
neben einander ſtehen, und zwar ſo, daß die eine als
Folge und nähere Beſtimmung der anderen ausgedrückt
wird. Da nun das Verbot der rechtswiſſenſchaftlichen
Bücher als Geſetz für uns nicht gilt (§ 27), ſo kann
auch das der Auslegung nicht gelten; denn wollten wir
dieſes, herausgeriſſen aus ſeinem Zuſammenhang, einzeln
gelten laſſen, ſo wäre es ja in der That nicht mehr Ju-
ſtinians Vorſchrift, ſondern etwas das wir daraus will-
kührlich gemacht hätten, und worin ſich blos der wört-
liche Schein ſeiner Vorſchrift wiederfände.
Zweytens weil ihre Ausführung für uns nicht etwa
ſchwierig, ſondern völlig unmöglich iſt. Denn Juſtinian
macht die Auslegung der Richter entbehrlich durch kaiſer-
liche Reſcripte, eine ſolche Anſtalt aber findet ſich in kei-
nem neueren Staate. Man täuſche ſich nicht durch die
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/370>, abgerufen am 24.11.2024.
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