ihrer Totalität, sondern immer nur in einem mäßigen Aus- zug, wollen und handeln können, so daß in Ansehung der Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt. Endlich weil selbst die Totalität der Einzelnen doch nur die des gegenwärtigen Augenblickes seyn würde, anstatt daß das ideale Volk, wovon hier die Rede ist, auch die ganze Zukunft in sich schließt, also ein unvergängliches Daseyn hat (§ 8).
Dennoch ist in den hier bestrittenen Ansichten ein wah- res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus- üben, und besonders wird die Begränzung derselben durch Eroberung und Zerstückelung oft sehr abweichend von den natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be- stimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem Staat völlig assimilirt werden; nur hat die Möglichkeit einer solchen Assimilation ihre Bedingungen und ihre Stu- fen, wie sie denn besonders durch einige Verwandtschaft des neuen Elements, so wie durch die innere Vollkommen- heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein alle solche Ereignisse, wie häufig sie auch in der Geschichte vorkommen mögen, sind doch nur Anomalien. Das Volk bleibt darum nicht minder die natürliche Basis des Staats, und die Bildung durch inwohnende Kraft seine naturge- mäße Entstehung. Tritt nun ein fremdartiges historisches Moment in diesen natürlichen Bildungsprozeß ein, so kann
§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.
ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus- zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt. Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches Daſeyn hat (§ 8).
Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah- res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus- üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be- ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu- fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen- heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats, und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge- mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0087"n="31"/><fwplace="top"type="header">§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.</fw><lb/>
ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus-<lb/>
zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der<lb/>
Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die<lb/>
Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt.<lb/>
Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur<lb/>
die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt<lb/>
daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die<lb/>
ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches<lb/>
Daſeyn hat (§ 8).</p><lb/><p>Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah-<lb/>
res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung<lb/>
der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus-<lb/>
üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch<lb/>
Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den<lb/>
natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be-<lb/>ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem<lb/>
Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit<lb/>
einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu-<lb/>
fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft<lb/>
des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen-<lb/>
heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein<lb/>
alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte<lb/>
vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk<lb/>
bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats,<lb/>
und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge-<lb/>
mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches<lb/>
Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[31/0087]
§. 10. Abweichende Meynungen über den Staat.
ihrer Totalität, ſondern immer nur in einem mäßigen Aus-
zug, wollen und handeln können, ſo daß in Anſehung der
Mehrzahl (der Frauen und der Minderjährigen) nur die
Zuflucht zu der leeren Fiction einer Vertretung übrig bleibt.
Endlich weil ſelbſt die Totalität der Einzelnen doch nur
die des gegenwärtigen Augenblickes ſeyn würde, anſtatt
daß das ideale Volk, wovon hier die Rede iſt, auch die
ganze Zukunft in ſich ſchließt, alſo ein unvergängliches
Daſeyn hat (§ 8).
Dennoch iſt in den hier beſtrittenen Anſichten ein wah-
res Element enthalten. Allerdings kann auf die Bildung
der Staaten Zufall und Willkühr großen Einfluß aus-
üben, und beſonders wird die Begränzung derſelben durch
Eroberung und Zerſtückelung oft ſehr abweichend von den
natürlichen, durch Volkseinheit angegebenen Gränzen be-
ſtimmt. Umgekehrt kann oft ein fremdartiges Element dem
Staat völlig aſſimilirt werden; nur hat die Möglichkeit
einer ſolchen Aſſimilation ihre Bedingungen und ihre Stu-
fen, wie ſie denn beſonders durch einige Verwandtſchaft
des neuen Elements, ſo wie durch die innere Vollkommen-
heit des aufnehmenden Staates gefördert wird. Allein
alle ſolche Ereigniſſe, wie häufig ſie auch in der Geſchichte
vorkommen mögen, ſind doch nur Anomalien. Das Volk
bleibt darum nicht minder die natürliche Baſis des Staats,
und die Bildung durch inwohnende Kraft ſeine naturge-
mäße Entſtehung. Tritt nun ein fremdartiges hiſtoriſches
Moment in dieſen natürlichen Bildungsprozeß ein, ſo kann
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/87>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.