Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.Vitalität. allen Umständen zu bestimmen, von welchem Vater undzu welcher Zeit das Kind wahrscheinlich erzeugt seyn möchte. Diese Behandlung aber erscheint durch folgende Betrachtungen als höchst bedenklich. Erstlich wegen der großen Unsicherheit. Es mögen wohl Fälle vorkommen, in welchen die äußerlichen Wahrscheinlichkeitsgründe für oder wider die Paternität so stark sind, daß sie auch einem Un- befangenen fast als Gewißheit erscheinen müssen. Allein diese Fälle sind da, wo überhaupt die Paternität Gegenstand eines Streites wird, gerade die seltneren, gewöhnlicher wird eine so große Ungewißheit zurück bleiben, daß die Entscheidung nicht ohne sehr freye richterliche Willkühr er- folgen könnte (d). Zweytens aber wäre diese Willkühr hier um so gefährlicher und unpassender, als es sich gar nicht um das persönliche Interesse handelt, sondern zu- gleich um allgemeinere sittliche Interessen: um die Ruhe ganzer Familien, und um die Ehre der Frauen. Deswe- gen hat das Römische Recht jenen Weg individueller Aus- mittlung nach Wahrscheinlichkeit gänzlich aufgegeben, und (d) Man könnte einwenden, dieses beweise zu viel, denn bey der in der Praxis angenomme- nen Alimentenklage werde ja doch ein solcher Beweis zugelassen, und es gehe damit ganz gut. Diese Behauptung aber wäre ganz irrig, denn was bey dieser Alimenten- klage bewiesen werden soll, ist gar nicht die Erzeugung, sondern die davon völlig verschiedene, sehr wohl erweisliche, Thatsache des Beyschlafs. Diese Thatsache für sich gilt nun als Grund der Obli- gation, und nicht etwa, weil da- durch eine Präsumtion der Er- zeugung begründet wäre: denn wollte man diese Präsumtion an- nehmen, so würde man etwas Unmögliches, folglich Widersinni- ges, präsumiren, nämlich daß das- selbe Kind wahrhaft von mehre- ren Vätern erzeugt seyn könne. 25*
Vitalität. allen Umſtänden zu beſtimmen, von welchem Vater undzu welcher Zeit das Kind wahrſcheinlich erzeugt ſeyn möchte. Dieſe Behandlung aber erſcheint durch folgende Betrachtungen als höchſt bedenklich. Erſtlich wegen der großen Unſicherheit. Es moͤgen wohl Fälle vorkommen, in welchen die äußerlichen Wahrſcheinlichkeitsgründe für oder wider die Paternität ſo ſtark ſind, daß ſie auch einem Un- befangenen faſt als Gewißheit erſcheinen müſſen. Allein dieſe Fälle ſind da, wo überhaupt die Paternität Gegenſtand eines Streites wird, gerade die ſeltneren, gewöhnlicher wird eine ſo große Ungewißheit zurück bleiben, daß die Entſcheidung nicht ohne ſehr freye richterliche Willkühr er- folgen könnte (d). Zweytens aber wäre dieſe Willkühr hier um ſo gefährlicher und unpaſſender, als es ſich gar nicht um das perſönliche Intereſſe handelt, ſondern zu- gleich um allgemeinere ſittliche Intereſſen: um die Ruhe ganzer Familien, und um die Ehre der Frauen. Deswe- gen hat das Römiſche Recht jenen Weg individueller Aus- mittlung nach Wahrſcheinlichkeit gänzlich aufgegeben, und (d) Man könnte einwenden, dieſes beweiſe zu viel, denn bey der in der Praxis angenomme- nen Alimentenklage werde ja doch ein ſolcher Beweis zugelaſſen, und es gehe damit ganz gut. Dieſe Behauptung aber wäre ganz irrig, denn was bey dieſer Alimenten- klage bewieſen werden ſoll, iſt gar nicht die Erzeugung, ſondern die davon völlig verſchiedene, ſehr wohl erweisliche, Thatſache des Beyſchlafs. Dieſe Thatſache für ſich gilt nun als Grund der Obli- gation, und nicht etwa, weil da- durch eine Präſumtion der Er- zeugung begründet wäre: denn wollte man dieſe Präſumtion an- nehmen, ſo würde man etwas Unmögliches, folglich Widerſinni- ges, präſumiren, nämlich daß daſ- ſelbe Kind wahrhaft von mehre- ren Vätern erzeugt ſeyn könne. 25*
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Vitalität.
allen Umſtänden zu beſtimmen, von welchem Vater und
zu welcher Zeit das Kind wahrſcheinlich erzeugt ſeyn
möchte. Dieſe Behandlung aber erſcheint durch folgende
Betrachtungen als höchſt bedenklich. Erſtlich wegen der
großen Unſicherheit. Es moͤgen wohl Fälle vorkommen, in
welchen die äußerlichen Wahrſcheinlichkeitsgründe für oder
wider die Paternität ſo ſtark ſind, daß ſie auch einem Un-
befangenen faſt als Gewißheit erſcheinen müſſen. Allein dieſe
Fälle ſind da, wo überhaupt die Paternität Gegenſtand
eines Streites wird, gerade die ſeltneren, gewöhnlicher
wird eine ſo große Ungewißheit zurück bleiben, daß die
Entſcheidung nicht ohne ſehr freye richterliche Willkühr er-
folgen könnte (d). Zweytens aber wäre dieſe Willkühr
hier um ſo gefährlicher und unpaſſender, als es ſich gar
nicht um das perſönliche Intereſſe handelt, ſondern zu-
gleich um allgemeinere ſittliche Intereſſen: um die Ruhe
ganzer Familien, und um die Ehre der Frauen. Deswe-
gen hat das Römiſche Recht jenen Weg individueller Aus-
mittlung nach Wahrſcheinlichkeit gänzlich aufgegeben, und
(d) Man könnte einwenden,
dieſes beweiſe zu viel, denn bey
der in der Praxis angenomme-
nen Alimentenklage werde ja doch
ein ſolcher Beweis zugelaſſen, und
es gehe damit ganz gut. Dieſe
Behauptung aber wäre ganz irrig,
denn was bey dieſer Alimenten-
klage bewieſen werden ſoll, iſt gar
nicht die Erzeugung, ſondern die
davon völlig verſchiedene, ſehr
wohl erweisliche, Thatſache des
Beyſchlafs. Dieſe Thatſache für
ſich gilt nun als Grund der Obli-
gation, und nicht etwa, weil da-
durch eine Präſumtion der Er-
zeugung begründet wäre: denn
wollte man dieſe Präſumtion an-
nehmen, ſo würde man etwas
Unmögliches, folglich Widerſinni-
ges, präſumiren, nämlich daß daſ-
ſelbe Kind wahrhaft von mehre-
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