Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Beylage III.
hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und
Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah-
men in einzelnen Fällen zu schwächen versucht. Aber sie
sind dabey nicht stehen geblieben, sondern sie haben in fol-
genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein-
mal vorkäme, sagen sie, daß ein Kind vor dem 182sten
Tage nach seiner Erzeugung dennoch lebend geboren würde,
so würde es, wenigstens nach der gesetzlich anerkannten
physiologischen Regel, unfähig seyn, das Leben längere
Zeit fortzusetzen, und daher können wir ihm auch keine
Rechte zuschreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört also nicht
nur Leben des Geborenen, sondern auch Lebensfähig-
keit
oder Vitalität, so daß das wegen Unreife nicht
lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt
geborenen, einem abortus, gleich zu achten ist (k). --
Bevor diese Lehre von Grund aus geprüft werden
kann, ist es nöthig, noch eine besondere Modification
derselben zu erwähnen. Sie ist nämlich zuweilen noch
dahin weiter ausgebildet worden, daß man sagte, die
im siebenten Monat geborenen Kinder seyen lebensfähig,
die im achten wieder nicht (l). Doch ist diese neue Ver-

(k) So wird es geradezu aus-
gedrückt von Haller Vorlesun-
gen über die gerichtl. Arzneiwis-
senschaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9
§ 3. 7, und von Oeltze de partu
vivo vitali
§ 15. 19.
(l) Cujacius in Paulum IV. 9
§ 5: "Qui ante septimum, vel
octavo mense
prodeunt, imper-
fecti sunt nec vitales. Nono
autem, et decimo, et undecimo
a conceptionis die legitimi par-
tus
fiunt."
Er sieht es als prak-
tisches Recht an, und bezieht es
offenbar auch auf die Rechtsfä-
higkeit. -- Wie dieses einmal in

Beylage III.
hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und
Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah-
men in einzelnen Fällen zu ſchwächen verſucht. Aber ſie
ſind dabey nicht ſtehen geblieben, ſondern ſie haben in fol-
genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein-
mal vorkäme, ſagen ſie, daß ein Kind vor dem 182ſten
Tage nach ſeiner Erzeugung dennoch lebend geboren würde,
ſo würde es, wenigſtens nach der geſetzlich anerkannten
phyſiologiſchen Regel, unfähig ſeyn, das Leben längere
Zeit fortzuſetzen, und daher können wir ihm auch keine
Rechte zuſchreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört alſo nicht
nur Leben des Geborenen, ſondern auch Lebensfähig-
keit
oder Vitalität, ſo daß das wegen Unreife nicht
lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt
geborenen, einem abortus, gleich zu achten iſt (k). —
Bevor dieſe Lehre von Grund aus geprüft werden
kann, iſt es nöthig, noch eine beſondere Modification
derſelben zu erwähnen. Sie iſt nämlich zuweilen noch
dahin weiter ausgebildet worden, daß man ſagte, die
im ſiebenten Monat geborenen Kinder ſeyen lebensfähig,
die im achten wieder nicht (l). Doch iſt dieſe neue Ver-

(k) So wird es geradezu aus-
gedrückt von Haller Vorleſun-
gen über die gerichtl. Arzneiwiſ-
ſenſchaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9
§ 3. 7, und von Oeltze de partu
vivo vitali
§ 15. 19.
(l) Cujacius in Paulum IV. 9
§ 5: „Qui ante septimum, vel
octavo mense
prodeunt, imper-
fecti sunt nec vitales. Nono
autem, et decimo, et undecimo
a conceptionis die legitimi par-
tus
fiunt.”
Er ſieht es als prak-
tiſches Recht an, und bezieht es
offenbar auch auf die Rechtsfä-
higkeit. — Wie dieſes einmal in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0406" n="392"/><fw place="top" type="header">Beylage <hi rendition="#aq">III.</hi></fw><lb/>
hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und<lb/>
Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah-<lb/>
men in einzelnen Fällen zu &#x017F;chwächen ver&#x017F;ucht. Aber &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ind dabey nicht &#x017F;tehen geblieben, &#x017F;ondern &#x017F;ie haben in fol-<lb/>
genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein-<lb/>
mal vorkäme, &#x017F;agen &#x017F;ie, daß ein Kind vor dem 182&#x017F;ten<lb/>
Tage nach &#x017F;einer Erzeugung dennoch lebend geboren würde,<lb/>
&#x017F;o würde es, wenig&#x017F;tens nach der ge&#x017F;etzlich anerkannten<lb/>
phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Regel, unfähig &#x017F;eyn, das Leben längere<lb/>
Zeit fortzu&#x017F;etzen, und daher können wir ihm auch keine<lb/>
Rechte zu&#x017F;chreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört al&#x017F;o nicht<lb/>
nur Leben des Geborenen, &#x017F;ondern auch <hi rendition="#g">Lebensfähig-<lb/>
keit</hi> oder <hi rendition="#g">Vitalität</hi>, &#x017F;o daß das wegen Unreife nicht<lb/>
lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt<lb/>
geborenen, einem <hi rendition="#aq">abortus,</hi> gleich zu achten i&#x017F;t <note place="foot" n="(k)">So wird es geradezu aus-<lb/>
gedrückt von <hi rendition="#g">Haller</hi> Vorle&#x017F;un-<lb/>
gen über die gerichtl. Arzneiwi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9<lb/>
§ 3. 7, und von <hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">Oeltze</hi> de partu<lb/>
vivo vitali</hi> § 15. 19.</note>. &#x2014;<lb/>
Bevor die&#x017F;e Lehre von Grund aus geprüft werden<lb/>
kann, i&#x017F;t es nöthig, noch eine be&#x017F;ondere Modification<lb/>
der&#x017F;elben zu erwähnen. Sie i&#x017F;t nämlich zuweilen noch<lb/>
dahin weiter ausgebildet worden, daß man &#x017F;agte, die<lb/>
im &#x017F;iebenten Monat geborenen Kinder &#x017F;eyen lebensfähig,<lb/>
die im achten wieder nicht <note xml:id="seg2pn_70_1" next="#seg2pn_70_2" place="foot" n="(l)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">Cujacius</hi> in Paulum IV. 9<lb/>
§ 5: &#x201E;Qui ante septimum, <hi rendition="#i">vel<lb/>
octavo mense</hi> prodeunt, imper-<lb/>
fecti sunt <hi rendition="#i">nec vitales</hi>. Nono<lb/>
autem, et decimo, et undecimo<lb/>
a conceptionis die <hi rendition="#i">legitimi par-<lb/>
tus</hi> fiunt.&#x201D;</hi> Er &#x017F;ieht es als prak-<lb/>
ti&#x017F;ches Recht an, und bezieht es<lb/>
offenbar auch auf die Rechtsfä-<lb/>
higkeit. &#x2014; Wie die&#x017F;es einmal in</note>. Doch i&#x017F;t die&#x017F;e neue Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[392/0406] Beylage III. hafte Sonderung der in einander greifenden Begriffe und Regeln ohne Noth verdunkelt, oder auch durch Ausnah- men in einzelnen Fällen zu ſchwächen verſucht. Aber ſie ſind dabey nicht ſtehen geblieben, ſondern ſie haben in fol- genden Sätzen darauf weiter fortgebaut. Wenn es ein- mal vorkäme, ſagen ſie, daß ein Kind vor dem 182ſten Tage nach ſeiner Erzeugung dennoch lebend geboren würde, ſo würde es, wenigſtens nach der geſetzlich anerkannten phyſiologiſchen Regel, unfähig ſeyn, das Leben längere Zeit fortzuſetzen, und daher können wir ihm auch keine Rechte zuſchreiben. Zur Rechtsfähigkeit gehört alſo nicht nur Leben des Geborenen, ſondern auch Lebensfähig- keit oder Vitalität, ſo daß das wegen Unreife nicht lebensfähige Kind keine Rechte hat, vielmehr einem todt geborenen, einem abortus, gleich zu achten iſt (k). — Bevor dieſe Lehre von Grund aus geprüft werden kann, iſt es nöthig, noch eine beſondere Modification derſelben zu erwähnen. Sie iſt nämlich zuweilen noch dahin weiter ausgebildet worden, daß man ſagte, die im ſiebenten Monat geborenen Kinder ſeyen lebensfähig, die im achten wieder nicht (l). Doch iſt dieſe neue Ver- (k) So wird es geradezu aus- gedrückt von Haller Vorleſun- gen über die gerichtl. Arzneiwiſ- ſenſchaft B. 1. Bern 1782 Kap. 9 § 3. 7, und von Oeltze de partu vivo vitali § 15. 19. (l) Cujacius in Paulum IV. 9 § 5: „Qui ante septimum, vel octavo mense prodeunt, imper- fecti sunt nec vitales. Nono autem, et decimo, et undecimo a conceptionis die legitimi par- tus fiunt.” Er ſieht es als prak- tiſches Recht an, und bezieht es offenbar auch auf die Rechtsfä- higkeit. — Wie dieſes einmal in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/406
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 2. Berlin, 1840, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system02_1840/406>, abgerufen am 17.07.2024.