Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
auf dessen Vernichtung es in dieser Untersuchung vorzugs-
weise ankommt.

Allerdings liegt es sehr nahe, Zwang und Freyheit
als einander ausschließende Zustände anzusehen, mithin die
Freyheit schlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-
den ist. Dennoch müssen wir bey genauerer Betrachtung
diese Ansicht gänzlich aufgeben. Mit den speculativen
Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-
gebiet Nichts zu schaffen; uns berührt blos die Freyheit
in der Erscheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-
reren denkbaren Entschlüssen eine Wahl zu treffen. Daß
aber diese Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey
dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden ist, kann nicht be-
zweifelt werden. Er hat die Wahl sogar zwischen Drey
möglichen Entschlüssen: die Handlung vorzunehmen, wozu
ihn der Drohende bestimmen will; das gedrohte Übel durch
Widerstand abzuwehren; oder endlich dieses Übel zu er-
dulden. Hat er nun den ersten dieser drey Wege erwählt,
so ist die Freyheit der Wahl, also seines Wollens, wahr-
haft vorhanden, und wir müssen das wirkliche, nicht blos
scheinbare, Daseyn einer Willenserklärung, z. B. eines
Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,
unbedenklich anerkennen.

Diese Ansicht ist denn auch die des Römischen Rechts
in so klaren, entscheidenden Stellen (c), daß selbst die

(c) L. 21 § 5 quod metus (4.
2.). "Si metu coactus adii he-
reditatem, puto me heredem
effici, quia, quamvis si liberum

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs-
weiſe ankommt.

Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit
als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die
Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-
den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung
dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen
Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-
gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit
in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-
reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß
aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey
dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be-
zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey
möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu
ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch
Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er-
dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt,
ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr-
haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos
ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines
Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,
unbedenklich anerkennen.

Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts
in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die

(c) L. 21 § 5 quod metus (4.
2.). „Si metu coactus adii he-
reditatem, puto me heredem
effici, quia, quamvis si liberum
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0114" n="102"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">II.</hi> Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e. Kap. <hi rendition="#aq">III.</hi> Ent&#x017F;tehung und Untergang.</fw><lb/>
auf de&#x017F;&#x017F;en Vernichtung es in die&#x017F;er Unter&#x017F;uchung vorzugs-<lb/>
wei&#x017F;e ankommt.</p><lb/>
            <p>Allerdings liegt es &#x017F;ehr nahe, Zwang und Freyheit<lb/>
als einander aus&#x017F;chließende Zu&#x017F;tände anzu&#x017F;ehen, mithin die<lb/>
Freyheit &#x017F;chlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan-<lb/>
den i&#x017F;t. Dennoch mü&#x017F;&#x017F;en wir bey genauerer Betrachtung<lb/>
die&#x017F;e An&#x017F;icht gänzlich aufgeben. Mit den &#x017F;peculativen<lb/>
Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts-<lb/>
gebiet Nichts zu &#x017F;chaffen; uns berührt blos die Freyheit<lb/>
in der Er&#x017F;cheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh-<lb/>
reren denkbaren Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en eine Wahl zu treffen. Daß<lb/>
aber die&#x017F;e Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey<lb/>
dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden i&#x017F;t, kann nicht be-<lb/>
zweifelt werden. Er hat die Wahl &#x017F;ogar zwi&#x017F;chen Drey<lb/>
möglichen Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en: die Handlung vorzunehmen, wozu<lb/>
ihn der Drohende be&#x017F;timmen will; das gedrohte Übel durch<lb/>
Wider&#x017F;tand abzuwehren; oder endlich die&#x017F;es Übel zu er-<lb/>
dulden. Hat er nun den er&#x017F;ten die&#x017F;er drey Wege erwählt,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t die Freyheit der Wahl, al&#x017F;o &#x017F;eines Wollens, wahr-<lb/>
haft vorhanden, und wir mü&#x017F;&#x017F;en das wirkliche, nicht blos<lb/>
&#x017F;cheinbare, Da&#x017F;eyn einer Willenserklärung, z. B. eines<lb/>
Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen,<lb/>
unbedenklich anerkennen.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e An&#x017F;icht i&#x017F;t denn auch die des Römi&#x017F;chen Rechts<lb/>
in &#x017F;o klaren, ent&#x017F;cheidenden Stellen <note xml:id="seg2pn_15_1" next="#seg2pn_15_2" place="foot" n="(c)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">L.</hi> 21 § 5 <hi rendition="#i">quod metus</hi> (4.<lb/>
2.). &#x201E;Si metu coactus adii he-<lb/>
reditatem, puto me heredem<lb/>
effici, quia, quamvis si liberum</hi></note>, daß &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0114] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang. auf deſſen Vernichtung es in dieſer Unterſuchung vorzugs- weiſe ankommt. Allerdings liegt es ſehr nahe, Zwang und Freyheit als einander ausſchließende Zuſtände anzuſehen, mithin die Freyheit ſchlechthin zu verneinen, da wo Zwang vorhan- den iſt. Dennoch müſſen wir bey genauerer Betrachtung dieſe Anſicht gänzlich aufgeben. Mit den ſpeculativen Schwierigkeiten des Freyheitsbegriffs haben wir im Rechts- gebiet Nichts zu ſchaffen; uns berührt blos die Freyheit in der Erſcheinung, das heißt die Fähigkeit, unter meh- reren denkbaren Entſchlüſſen eine Wahl zu treffen. Daß aber dieſe Fähigkeit bey dem Gezwungnen, das heißt bey dem Bedrohten, wahrhaft vorhanden iſt, kann nicht be- zweifelt werden. Er hat die Wahl ſogar zwiſchen Drey möglichen Entſchlüſſen: die Handlung vorzunehmen, wozu ihn der Drohende beſtimmen will; das gedrohte Übel durch Widerſtand abzuwehren; oder endlich dieſes Übel zu er- dulden. Hat er nun den erſten dieſer drey Wege erwählt, ſo iſt die Freyheit der Wahl, alſo ſeines Wollens, wahr- haft vorhanden, und wir müſſen das wirkliche, nicht blos ſcheinbare, Daſeyn einer Willenserklärung, z. B. eines Vertrags, mit allen daran geknüpften Rechtswirkungen, unbedenklich anerkennen. Dieſe Anſicht iſt denn auch die des Römiſchen Rechts in ſo klaren, entſcheidenden Stellen (c), daß ſelbſt die (c) L. 21 § 5 quod metus (4. 2.). „Si metu coactus adii he- reditatem, puto me heredem effici, quia, quamvis si liberum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/114
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/114>, abgerufen am 24.11.2024.