haupt unmöglich war, ohne Rücksicht auf das Bewußtseyn und den Willen der Parteyen.
XII.
Bisher war von Rechtsgeschäften durch ausdrückliche Willenserklärung die Rede; eine etwas andere Natur hat in Beziehung auf Irrthum die stillschweigende (§ 131). Denn das Daseyn des Willens war, bey der ausdrückli- chen, durch die mündliche oder die schriftliche Rede völlig gewiß, und es konnte nur die Frage seyn, ob diesem wirk- lich vorhandenen Willen wegen des Irrthums die gewöhn- liche Wirkung entzogen werden sollte. In der stillschwei- genden Erklärung dagegen ist das Daseyn des Willens nicht schon für sich gewiß, vielmehr soll dasselbe erst aus Handlungen geschlossen werden, die wir als Ausdruck des Willens annehmen. Sind nun aber diese Handlungen in einer solchen irrigen Voraussetzung unternommen, daß sie gar nicht als Ausdruck jenes Willens gelten können, dann fehlt es an allem positiven Grund einer Rechtsänderung, und es kann gar nicht die Frage davon seyn, dem Willen seine gewöhnliche Wirksamkeit zu versagen.
Wenn wir aber dieses anerkennen, so nehmen wir nicht etwa blos einen anderen Grund an für die Einwirkung des Irrthums auf die stillschweigenden Willenserklärungen, sondern auch die praktische Beurtheilung im Einzelnen wird eine ganz andere. Denn die Schuldlosigkeit des Irrthums wird nunmehr ganz gleichgültig: dann aber verschwindet
Irrthum und Unwiſſenheit.
haupt unmöglich war, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn und den Willen der Parteyen.
XII.
Bisher war von Rechtsgeſchäften durch ausdrückliche Willenserklärung die Rede; eine etwas andere Natur hat in Beziehung auf Irrthum die ſtillſchweigende (§ 131). Denn das Daſeyn des Willens war, bey der ausdrückli- chen, durch die mündliche oder die ſchriftliche Rede voͤllig gewiß, und es konnte nur die Frage ſeyn, ob dieſem wirk- lich vorhandenen Willen wegen des Irrthums die gewöhn- liche Wirkung entzogen werden ſollte. In der ſtillſchwei- genden Erklärung dagegen iſt das Daſeyn des Willens nicht ſchon für ſich gewiß, vielmehr ſoll daſſelbe erſt aus Handlungen geſchloſſen werden, die wir als Ausdruck des Willens annehmen. Sind nun aber dieſe Handlungen in einer ſolchen irrigen Vorausſetzung unternommen, daß ſie gar nicht als Ausdruck jenes Willens gelten können, dann fehlt es an allem poſitiven Grund einer Rechtsänderung, und es kann gar nicht die Frage davon ſeyn, dem Willen ſeine gewöhnliche Wirkſamkeit zu verſagen.
Wenn wir aber dieſes anerkennen, ſo nehmen wir nicht etwa blos einen anderen Grund an für die Einwirkung des Irrthums auf die ſtillſchweigenden Willenserklärungen, ſondern auch die praktiſche Beurtheilung im Einzelnen wird eine ganz andere. Denn die Schuldloſigkeit des Irrthums wird nunmehr ganz gleichgültig: dann aber verſchwindet
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Irrthum und Unwiſſenheit.
haupt unmöglich war, ohne Rückſicht auf das Bewußtſeyn
und den Willen der Parteyen.
XII.
Bisher war von Rechtsgeſchäften durch ausdrückliche
Willenserklärung die Rede; eine etwas andere Natur hat
in Beziehung auf Irrthum die ſtillſchweigende (§ 131).
Denn das Daſeyn des Willens war, bey der ausdrückli-
chen, durch die mündliche oder die ſchriftliche Rede voͤllig
gewiß, und es konnte nur die Frage ſeyn, ob dieſem wirk-
lich vorhandenen Willen wegen des Irrthums die gewöhn-
liche Wirkung entzogen werden ſollte. In der ſtillſchwei-
genden Erklärung dagegen iſt das Daſeyn des Willens
nicht ſchon für ſich gewiß, vielmehr ſoll daſſelbe erſt aus
Handlungen geſchloſſen werden, die wir als Ausdruck des
Willens annehmen. Sind nun aber dieſe Handlungen in
einer ſolchen irrigen Vorausſetzung unternommen, daß ſie
gar nicht als Ausdruck jenes Willens gelten können, dann
fehlt es an allem poſitiven Grund einer Rechtsänderung,
und es kann gar nicht die Frage davon ſeyn, dem Willen
ſeine gewöhnliche Wirkſamkeit zu verſagen.
Wenn wir aber dieſes anerkennen, ſo nehmen wir nicht
etwa blos einen anderen Grund an für die Einwirkung
des Irrthums auf die ſtillſchweigenden Willenserklärungen,
ſondern auch die praktiſche Beurtheilung im Einzelnen wird
eine ganz andere. Denn die Schuldloſigkeit des Irrthums
wird nunmehr ganz gleichgültig: dann aber verſchwindet
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/375>, abgerufen am 24.11.2024.
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