gegen müssen wir auch bey dem Rechtsirrthum die Usu- capion zulassen, wenn er sich auf wirklich controverse Rechtsregeln bezieht. Folgende, aus dem älteren Römi- schen Recht hergenommene Fälle werden diesen Satz ein- leuchtend machen.
Die Sabinianer rechneten die Pubertät von der Zeu- gungsfähigkeit an, die Proculejaner (so wie Justinian) von Vierzehen Jahren (b). Wenn nun ein Proculejaner von einem Vierzehenjährigen, der noch nicht zeugungsfähig war, eine Sache kaufte, so glaubte er sogleich Eigenthü- mer zu werden. Entstand aber nach Jahren Streit über dieses Eigenthum, so war der Prätor, der den Prozeß durch seine Instruction leitete (oder dessen juristischer Rath- geber), entweder ein Proculejaner oder ein Sabinianer. Im ersten Fall erkannte er jenem Käufer das Eigenthum schon von der Tradition oder Mancipation an zu. Im zweyten Fall konnte er dieses freylich nicht, aber nun ent- stand die Frage, ob dem Käufer nicht wenigstens die Usu- capion zu gut komme? Allerdings mußte jener Prätor dem Käufer einen Rechtsirrthum zuschreiben, allein für einen leichtsinnigen, durch bloße Erkundigung zu vermei- denden, Irrthum konnte er ihn gewiß nicht erklären, da ja die diversae scholae auctores doch auch für angesehene Juristen galten. Ich glaube also, daß selbst der Sabi- nianische Prätor in diesem Fall die Usucapion zulassen mußte, nach dem (von dem Schulenstreit ganz unabhängi-
(b)Ulpian. XI. § 28. Vergl. das System § 109.
Beylage VIII.
gegen müſſen wir auch bey dem Rechtsirrthum die Uſu- capion zulaſſen, wenn er ſich auf wirklich controverſe Rechtsregeln bezieht. Folgende, aus dem älteren Römi- ſchen Recht hergenommene Fälle werden dieſen Satz ein- leuchtend machen.
Die Sabinianer rechneten die Pubertät von der Zeu- gungsfähigkeit an, die Proculejaner (ſo wie Juſtinian) von Vierzehen Jahren (b). Wenn nun ein Proculejaner von einem Vierzehenjährigen, der noch nicht zeugungsfähig war, eine Sache kaufte, ſo glaubte er ſogleich Eigenthü- mer zu werden. Entſtand aber nach Jahren Streit über dieſes Eigenthum, ſo war der Prätor, der den Prozeß durch ſeine Inſtruction leitete (oder deſſen juriſtiſcher Rath- geber), entweder ein Proculejaner oder ein Sabinianer. Im erſten Fall erkannte er jenem Käufer das Eigenthum ſchon von der Tradition oder Mancipation an zu. Im zweyten Fall konnte er dieſes freylich nicht, aber nun ent- ſtand die Frage, ob dem Käufer nicht wenigſtens die Uſu- capion zu gut komme? Allerdings mußte jener Prätor dem Käufer einen Rechtsirrthum zuſchreiben, allein für einen leichtſinnigen, durch bloße Erkundigung zu vermei- denden, Irrthum konnte er ihn gewiß nicht erklären, da ja die diversae scholae auctores doch auch für angeſehene Juriſten galten. Ich glaube alſo, daß ſelbſt der Sabi- nianiſche Prätor in dieſem Fall die Uſucapion zulaſſen mußte, nach dem (von dem Schulenſtreit ganz unabhängi-
(b)Ulpian. XI. § 28. Vergl. das Syſtem § 109.
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Beylage VIII.
gegen müſſen wir auch bey dem Rechtsirrthum die Uſu-
capion zulaſſen, wenn er ſich auf wirklich controverſe
Rechtsregeln bezieht. Folgende, aus dem älteren Römi-
ſchen Recht hergenommene Fälle werden dieſen Satz ein-
leuchtend machen.
Die Sabinianer rechneten die Pubertät von der Zeu-
gungsfähigkeit an, die Proculejaner (ſo wie Juſtinian)
von Vierzehen Jahren (b). Wenn nun ein Proculejaner
von einem Vierzehenjährigen, der noch nicht zeugungsfähig
war, eine Sache kaufte, ſo glaubte er ſogleich Eigenthü-
mer zu werden. Entſtand aber nach Jahren Streit über
dieſes Eigenthum, ſo war der Prätor, der den Prozeß
durch ſeine Inſtruction leitete (oder deſſen juriſtiſcher Rath-
geber), entweder ein Proculejaner oder ein Sabinianer.
Im erſten Fall erkannte er jenem Käufer das Eigenthum
ſchon von der Tradition oder Mancipation an zu. Im
zweyten Fall konnte er dieſes freylich nicht, aber nun ent-
ſtand die Frage, ob dem Käufer nicht wenigſtens die Uſu-
capion zu gut komme? Allerdings mußte jener Prätor
dem Käufer einen Rechtsirrthum zuſchreiben, allein für
einen leichtſinnigen, durch bloße Erkundigung zu vermei-
denden, Irrthum konnte er ihn gewiß nicht erklären, da
ja die diversae scholae auctores doch auch für angeſehene
Juriſten galten. Ich glaube alſo, daß ſelbſt der Sabi-
nianiſche Prätor in dieſem Fall die Uſucapion zulaſſen
mußte, nach dem (von dem Schulenſtreit ganz unabhängi-
(b) Ulpian. XI. § 28. Vergl. das Syſtem § 109.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/388>, abgerufen am 24.11.2024.
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