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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Beylage VIII.
Behandlung wohl rechtfertigen dürfte (Num. IV.). Man
wird aber jene Bestimmung natürlich finden, wenn man
erwägt, daß bey der Abfassung des Landrechts die Er-
wartung gehegt wurde, das Recht werde von nun an
nicht nur unzweifelhaft, sondern auch der ganzen Nation
bekannt seyn. Die angeführte Bestimmung ist ohne Zwei-
fel gemeynt von jedem Rechtsirrthum überhaupt; der Aus-
druck aber geht zunächst auf das Daseyn der einzelnen
Gesetze, indem deren Publication als das einzig entschei-
dende Moment betrachtet wird. Es ist also dabey nicht
beachtet, daß der Rechtsirrthum in den allermeisten Fällen
nicht auf der Unbekanntschaft mit dem Daseyn eines ein-
zelnen Gesetzes, sondern auf der Bildung einer unrichti-
gen, aus vielen Gesetzen abgezogenen, wissenschaftlichen
Theorie beruhen wird. Wir müßten daher, zur Rechtferti-
gung jener Strenge des Landrechts, annehmen, daß Nie-
mand ohne eine leicht vermeidliche Nachlässigkeit in einen
solchen theoretischen Irrthum gerathen könne. Dieser An-
nahme aber steht schon die große Zahl von Gesetzdeclara-
tionen entgegen, die seit der Erscheinung des Landrechts
nöthig gefunden worden sind, und die fast immer durch
irrige, oder widersprechende, Entscheidungen der mit wohl-
geprüften Personen besetzten Gerichtshöfe veranlaßt wurden.

Das Österreichische Gesetzbuch sagt § 2, so wie
das Preußische, es könne sich Niemand durch die Unbe-
kanntschaft mit dem Gesetze entschuldigen (b). -- Der Irr-

(b) Zeillar Vorbereitung zur Österreich. Gesetzkunde B. 4 S. 84

Beylage VIII.
Behandlung wohl rechtfertigen dürfte (Num. IV.). Man
wird aber jene Beſtimmung natürlich finden, wenn man
erwägt, daß bey der Abfaſſung des Landrechts die Er-
wartung gehegt wurde, das Recht werde von nun an
nicht nur unzweifelhaft, ſondern auch der ganzen Nation
bekannt ſeyn. Die angeführte Beſtimmung iſt ohne Zwei-
fel gemeynt von jedem Rechtsirrthum überhaupt; der Aus-
druck aber geht zunächſt auf das Daſeyn der einzelnen
Geſetze, indem deren Publication als das einzig entſchei-
dende Moment betrachtet wird. Es iſt alſo dabey nicht
beachtet, daß der Rechtsirrthum in den allermeiſten Fällen
nicht auf der Unbekanntſchaft mit dem Daſeyn eines ein-
zelnen Geſetzes, ſondern auf der Bildung einer unrichti-
gen, aus vielen Geſetzen abgezogenen, wiſſenſchaftlichen
Theorie beruhen wird. Wir müßten daher, zur Rechtferti-
gung jener Strenge des Landrechts, annehmen, daß Nie-
mand ohne eine leicht vermeidliche Nachläſſigkeit in einen
ſolchen theoretiſchen Irrthum gerathen könne. Dieſer An-
nahme aber ſteht ſchon die große Zahl von Geſetzdeclara-
tionen entgegen, die ſeit der Erſcheinung des Landrechts
nöthig gefunden worden ſind, und die faſt immer durch
irrige, oder widerſprechende, Entſcheidungen der mit wohl-
geprüften Perſonen beſetzten Gerichtshöfe veranlaßt wurden.

Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſagt § 2, ſo wie
das Preußiſche, es könne ſich Niemand durch die Unbe-
kanntſchaft mit dem Geſetze entſchuldigen (b). — Der Irr-

(b) Zeillar Vorbereitung zur Öſterreich. Geſetzkunde B. 4 S. 84
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[470/0482] Beylage VIII. Behandlung wohl rechtfertigen dürfte (Num. IV.). Man wird aber jene Beſtimmung natürlich finden, wenn man erwägt, daß bey der Abfaſſung des Landrechts die Er- wartung gehegt wurde, das Recht werde von nun an nicht nur unzweifelhaft, ſondern auch der ganzen Nation bekannt ſeyn. Die angeführte Beſtimmung iſt ohne Zwei- fel gemeynt von jedem Rechtsirrthum überhaupt; der Aus- druck aber geht zunächſt auf das Daſeyn der einzelnen Geſetze, indem deren Publication als das einzig entſchei- dende Moment betrachtet wird. Es iſt alſo dabey nicht beachtet, daß der Rechtsirrthum in den allermeiſten Fällen nicht auf der Unbekanntſchaft mit dem Daſeyn eines ein- zelnen Geſetzes, ſondern auf der Bildung einer unrichti- gen, aus vielen Geſetzen abgezogenen, wiſſenſchaftlichen Theorie beruhen wird. Wir müßten daher, zur Rechtferti- gung jener Strenge des Landrechts, annehmen, daß Nie- mand ohne eine leicht vermeidliche Nachläſſigkeit in einen ſolchen theoretiſchen Irrthum gerathen könne. Dieſer An- nahme aber ſteht ſchon die große Zahl von Geſetzdeclara- tionen entgegen, die ſeit der Erſcheinung des Landrechts nöthig gefunden worden ſind, und die faſt immer durch irrige, oder widerſprechende, Entſcheidungen der mit wohl- geprüften Perſonen beſetzten Gerichtshöfe veranlaßt wurden. Das Öſterreichiſche Geſetzbuch ſagt § 2, ſo wie das Preußiſche, es könne ſich Niemand durch die Unbe- kanntſchaft mit dem Geſetze entſchuldigen (b). — Der Irr- (b) Zeillar Vorbereitung zur Öſterreich. Geſetzkunde B. 4 S. 84

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/482>, abgerufen am 27.11.2024.