Im Römischen Criminalprozeß wurden jedem Richter drei Täfelchen eingehändigt, bezeichnet mit C (condemno), A (absolvo), NL (non liquet). War die Stimmenmehrheit für non liquet, so wurde, nach einer unter unsren Schrift- stellern seit langer Zeit verbreiteten Meinung, der Ange- klagte nicht für schuldlos erklärt, aber er blieb ohne Strafe; es war nach dieser Meinung ähnlich unsrer Freisprechung von der Instanz. Man könnte glauben, ein ähnliches nicht entscheidendes Urtheil wäre auch im Civilprozeß möglich gewesen.
In der That aber verhielt es sich auch schon im Criminal- prozeß ganz anders. Wenn die meisten Stimmen auf non liquet gingen, so lautetete der Ausspruch des vorsitzenden Prätors nicht: Non liquet, wodurch die Sache auf unbe- stimmte Zeit, vielleicht für immer, unentschieden geblieben wäre, sondern vielmehr: Amplius, welches die Folge hatte, daß die Verhandlung an irgend einem anderen nahen Tage fortgesetzt wurde, bis die Richter glaubten, ein sicheres Urtheil aussprechen zu können. Der Ausgang jedes einge- leiteten Criminalprozesses war also stets Verurtheilung oder Freisprechung, nie Unentschiedenheit (h).
Eben so war aber auch im Civilprozeß zu allen Zeiten kein anderer Ausgang möglich, als durch Verurtheilung
(h) Dieser Gegenstand ist aus- führlich und gründlich behandelt von Geib Geschichte des römischen Criminalprozesses. Leipzig 1842. S. 568--583.
Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
2. Unbeſtimmte Urtheile.
Im Römiſchen Criminalprozeß wurden jedem Richter drei Täfelchen eingehändigt, bezeichnet mit C (condemno), A (absolvo), NL (non liquet). War die Stimmenmehrheit für non liquet, ſo wurde, nach einer unter unſren Schrift- ſtellern ſeit langer Zeit verbreiteten Meinung, der Ange- klagte nicht für ſchuldlos erklärt, aber er blieb ohne Strafe; es war nach dieſer Meinung ähnlich unſrer Freiſprechung von der Inſtanz. Man könnte glauben, ein ähnliches nicht entſcheidendes Urtheil wäre auch im Civilprozeß möglich geweſen.
In der That aber verhielt es ſich auch ſchon im Criminal- prozeß ganz anders. Wenn die meiſten Stimmen auf non liquet gingen, ſo lautetete der Ausſpruch des vorſitzenden Prätors nicht: Non liquet, wodurch die Sache auf unbe- ſtimmte Zeit, vielleicht für immer, unentſchieden geblieben wäre, ſondern vielmehr: Amplius, welches die Folge hatte, daß die Verhandlung an irgend einem anderen nahen Tage fortgeſetzt wurde, bis die Richter glaubten, ein ſicheres Urtheil ausſprechen zu können. Der Ausgang jedes einge- leiteten Criminalprozeſſes war alſo ſtets Verurtheilung oder Freiſprechung, nie Unentſchiedenheit (h).
Eben ſo war aber auch im Civilprozeß zu allen Zeiten kein anderer Ausgang möglich, als durch Verurtheilung
(h) Dieſer Gegenſtand iſt aus- führlich und gründlich behandelt von Geib Geſchichte des römiſchen Criminalprozeſſes. Leipzig 1842. S. 568—583.
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Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. IV. Verletzung.
2. Unbeſtimmte Urtheile.
Im Römiſchen Criminalprozeß wurden jedem Richter
drei Täfelchen eingehändigt, bezeichnet mit C (condemno),
A (absolvo), NL (non liquet). War die Stimmenmehrheit
für non liquet, ſo wurde, nach einer unter unſren Schrift-
ſtellern ſeit langer Zeit verbreiteten Meinung, der Ange-
klagte nicht für ſchuldlos erklärt, aber er blieb ohne Strafe;
es war nach dieſer Meinung ähnlich unſrer Freiſprechung
von der Inſtanz. Man könnte glauben, ein ähnliches nicht
entſcheidendes Urtheil wäre auch im Civilprozeß möglich
geweſen.
In der That aber verhielt es ſich auch ſchon im Criminal-
prozeß ganz anders. Wenn die meiſten Stimmen auf non
liquet gingen, ſo lautetete der Ausſpruch des vorſitzenden
Prätors nicht: Non liquet, wodurch die Sache auf unbe-
ſtimmte Zeit, vielleicht für immer, unentſchieden geblieben
wäre, ſondern vielmehr: Amplius, welches die Folge hatte,
daß die Verhandlung an irgend einem anderen nahen Tage
fortgeſetzt wurde, bis die Richter glaubten, ein ſicheres
Urtheil ausſprechen zu können. Der Ausgang jedes einge-
leiteten Criminalprozeſſes war alſo ſtets Verurtheilung oder
Freiſprechung, nie Unentſchiedenheit (h).
Eben ſo war aber auch im Civilprozeß zu allen Zeiten
kein anderer Ausgang möglich, als durch Verurtheilung
(h) Dieſer Gegenſtand iſt aus-
führlich und gründlich behandelt
von Geib Geſchichte des römiſchen
Criminalprozeſſes. Leipzig 1842.
S. 568—583.
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/328>, abgerufen am 25.11.2024.
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