Diese ganze Meinung, und insbesondere die War- nung gegen Publication der Gründe, hangt augenscheinlich zusammen mit der oben erwähnten Auffassung, nach welcher das ganze Streben auf die schnelle Beseitigung des augen- blicklichen Bedürfnisses und auf die Verminderung der Rechtsmittel, nicht auf die bleibende Feststellung streitiger Rechtsverhältnisse für die Zukunft, gerichtet seyn soll. Das- selbe Motiv liegt auch der ersten Meinung zum Grunde, durch welche die Rechtskraft der Gründe überhaupt, und ohne Rücksicht auf äußere Form und Stellung, ver- neint wird.
III. Bei einer dritten Klasse von Schriftstellern endlich wird der innere Zusammenhang der Gründe mit dem In- halt des Urtheils, und daher die Theilnahme der Gründe an der Rechtskraft, richtig anerkannt, ohne Unterschied, in welcher Form die Gründe ausgesprochen, und an welcher Stelle dieselben angebracht sind.
Der erste Schriftsteller neuerer Zeiten, bei welchem ich diese freiere Ansicht finde, ist J. H. Böhmer. Er nennt die Gründe wesentliche Bestandtheile des Urtheils, die Seele des Urtheils, die Ergänzung des richterlichen Gedankens, und schreibt ihnen daher dieselbe Kraft, wie dem Urtheil selbst, zu (f).
(f)Böhmer exercit. ad Pand. T. 5 p. 534 § 18: "Equidem rationes decidendi virtualiter sententiae inesse creduntur, cum contineant fundamenta, quibus judex motus sententiam eo, quo factum est, modo tulit, adeoque eandem vim cum ipsa sententia habere videntur, utpote cujus anima et quasi
§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
Dieſe ganze Meinung, und insbeſondere die War- nung gegen Publication der Gründe, hangt augenſcheinlich zuſammen mit der oben erwähnten Auffaſſung, nach welcher das ganze Streben auf die ſchnelle Beſeitigung des augen- blicklichen Bedürfniſſes und auf die Verminderung der Rechtsmittel, nicht auf die bleibende Feſtſtellung ſtreitiger Rechtsverhältniſſe für die Zukunft, gerichtet ſeyn ſoll. Das- ſelbe Motiv liegt auch der erſten Meinung zum Grunde, durch welche die Rechtskraft der Gründe überhaupt, und ohne Rückſicht auf äußere Form und Stellung, ver- neint wird.
III. Bei einer dritten Klaſſe von Schriftſtellern endlich wird der innere Zuſammenhang der Gründe mit dem In- halt des Urtheils, und daher die Theilnahme der Gründe an der Rechtskraft, richtig anerkannt, ohne Unterſchied, in welcher Form die Gründe ausgeſprochen, und an welcher Stelle dieſelben angebracht ſind.
Der erſte Schriftſteller neuerer Zeiten, bei welchem ich dieſe freiere Anſicht finde, iſt J. H. Böhmer. Er nennt die Gründe weſentliche Beſtandtheile des Urtheils, die Seele des Urtheils, die Ergänzung des richterlichen Gedankens, und ſchreibt ihnen daher dieſelbe Kraft, wie dem Urtheil ſelbſt, zu (f).
(f)Böhmer exercit. ad Pand. T. 5 p. 534 § 18: „Equidem rationes decidendi virtualiter sententiae inesse creduntur, cum contineant fundamenta, quibus judex motus sententiam eo, quo factum est, modo tulit, adeoque eandem vim cum ipsa sententia habere videntur, utpote cujus anima et quasi
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§. 293. Rechtskraft der Gründe. Schriftſteller.
Dieſe ganze Meinung, und insbeſondere die War-
nung gegen Publication der Gründe, hangt augenſcheinlich
zuſammen mit der oben erwähnten Auffaſſung, nach welcher
das ganze Streben auf die ſchnelle Beſeitigung des augen-
blicklichen Bedürfniſſes und auf die Verminderung der
Rechtsmittel, nicht auf die bleibende Feſtſtellung ſtreitiger
Rechtsverhältniſſe für die Zukunft, gerichtet ſeyn ſoll. Das-
ſelbe Motiv liegt auch der erſten Meinung zum Grunde,
durch welche die Rechtskraft der Gründe überhaupt, und
ohne Rückſicht auf äußere Form und Stellung, ver-
neint wird.
III. Bei einer dritten Klaſſe von Schriftſtellern endlich
wird der innere Zuſammenhang der Gründe mit dem In-
halt des Urtheils, und daher die Theilnahme der Gründe
an der Rechtskraft, richtig anerkannt, ohne Unterſchied, in
welcher Form die Gründe ausgeſprochen, und an welcher
Stelle dieſelben angebracht ſind.
Der erſte Schriftſteller neuerer Zeiten, bei welchem
ich dieſe freiere Anſicht finde, iſt J. H. Böhmer. Er
nennt die Gründe weſentliche Beſtandtheile des Urtheils,
die Seele des Urtheils, die Ergänzung des richterlichen
Gedankens, und ſchreibt ihnen daher dieſelbe Kraft, wie
dem Urtheil ſelbſt, zu (f).
(f) Böhmer exercit. ad Pand.
T. 5 p. 534 § 18: „Equidem
rationes decidendi virtualiter
sententiae inesse creduntur,
cum contineant fundamenta,
quibus judex motus sententiam
eo, quo factum est, modo
tulit, adeoque eandem vim cum
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 6. Berlin, 1847, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system06_1847/407>, abgerufen am 22.11.2024.
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