Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der gesetzliche Erfüllungsort. So wird also durch jene Lehre das wahre Sachverhältniß geradezu umgekehrt; denn nach der wirklichen Lehre des Römischen Rechts ist der Er- füllungsort nicht das Bestimmende für den Gerichtsstand, sondern vielmehr das von dem Gerichtsstand Abhängige.
Wäre nun die eben angegebene Regel des Römischen Rechts allein vorhanden, so würde ein so handgreiflicher Zirkel nicht verkannt worden seyn, und die erwähnte irrige Lehre hätte schwerlich Vertheidiger gefunden. Allein jener Regel ist im Römischen Recht eine Beschränkung hinzuge- fügt worden, und diese Beschränkung hat das ganze Miß- verständniß verschuldet. In vollständigem Zusammenhang steht nun die Sache also.
Allerdings kann in der Regel jeder Glaubiger die Er- füllung einer Forderung an jedem Ort erzwingen, wo er einen Gerichtsstand des Schuldners findet. Wenn aber die Forderung auf Uebergabe einer individuell bestimmten beweglichen Sache, einer certa species, gerichtet ist, so tritt für den Schuldner die Erleichterung ein, daß er sich frei machen kann durch die Uebergabe an dem Orte, wo sich gerade jetzt die Sache zufällig befindet, daß er sie also nicht auf seine Kosten und Gefahr an den Ort der Klage zu bringen ver- pflichtet ist. Nur verliert er diesen Vortheil, wenn die Sache nicht durch Zufall, sondern durch seine unredliche Handlung anderwärts ist. Ferner gilt diese Erleichterung nicht bei allen Schuldklagen, sondern nur bei Klagen aus
Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der geſetzliche Erfüllungsort. So wird alſo durch jene Lehre das wahre Sachverhältniß geradezu umgekehrt; denn nach der wirklichen Lehre des Römiſchen Rechts iſt der Er- füllungsort nicht das Beſtimmende für den Gerichtsſtand, ſondern vielmehr das von dem Gerichtsſtand Abhängige.
Wäre nun die eben angegebene Regel des Römiſchen Rechts allein vorhanden, ſo würde ein ſo handgreiflicher Zirkel nicht verkannt worden ſeyn, und die erwähnte irrige Lehre hätte ſchwerlich Vertheidiger gefunden. Allein jener Regel iſt im Römiſchen Recht eine Beſchränkung hinzuge- fügt worden, und dieſe Beſchränkung hat das ganze Miß- verſtändniß verſchuldet. In vollſtändigem Zuſammenhang ſteht nun die Sache alſo.
Allerdings kann in der Regel jeder Glaubiger die Er- füllung einer Forderung an jedem Ort erzwingen, wo er einen Gerichtsſtand des Schuldners findet. Wenn aber die Forderung auf Uebergabe einer individuell beſtimmten beweglichen Sache, einer certa species, gerichtet iſt, ſo tritt für den Schuldner die Erleichterung ein, daß er ſich frei machen kann durch die Uebergabe an dem Orte, wo ſich gerade jetzt die Sache zufällig befindet, daß er ſie alſo nicht auf ſeine Koſten und Gefahr an den Ort der Klage zu bringen ver- pflichtet iſt. Nur verliert er dieſen Vortheil, wenn die Sache nicht durch Zufall, ſondern durch ſeine unredliche Handlung anderwärts iſt. Ferner gilt dieſe Erleichterung nicht bei allen Schuldklagen, ſondern nur bei Klagen aus
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Buch III. Herrſchaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen.
der geſetzliche Erfüllungsort. So wird alſo durch jene
Lehre das wahre Sachverhältniß geradezu umgekehrt; denn
nach der wirklichen Lehre des Römiſchen Rechts iſt der Er-
füllungsort nicht das Beſtimmende für den Gerichtsſtand,
ſondern vielmehr das von dem Gerichtsſtand Abhängige.
Wäre nun die eben angegebene Regel des Römiſchen
Rechts allein vorhanden, ſo würde ein ſo handgreiflicher
Zirkel nicht verkannt worden ſeyn, und die erwähnte irrige
Lehre hätte ſchwerlich Vertheidiger gefunden. Allein jener
Regel iſt im Römiſchen Recht eine Beſchränkung hinzuge-
fügt worden, und dieſe Beſchränkung hat das ganze Miß-
verſtändniß verſchuldet. In vollſtändigem Zuſammenhang
ſteht nun die Sache alſo.
Allerdings kann in der Regel jeder Glaubiger die Er-
füllung einer Forderung an jedem Ort erzwingen, wo er einen
Gerichtsſtand des Schuldners findet. Wenn aber die Forderung
auf Uebergabe einer individuell beſtimmten beweglichen
Sache, einer certa species, gerichtet iſt, ſo tritt für den
Schuldner die Erleichterung ein, daß er ſich frei machen
kann durch die Uebergabe an dem Orte, wo ſich gerade jetzt
die Sache zufällig befindet, daß er ſie alſo nicht auf ſeine
Koſten und Gefahr an den Ort der Klage zu bringen ver-
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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 8. Berlin, 1849, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system08_1849/252>, abgerufen am 22.11.2024.
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