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Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, Bd. 1. Schaffhausen, 1861.

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Gott ist gleichgesinnt gegen Alle; wer sich zu ihm wendet, der Brahmane oder ein Knecht, alle können den höchsten Weg einschlagen; aber die wohlwollend gegen alle Geschöpfe Gesinnten, die Tugendhaften, die Gleichmüthigen und Frommen sind Gott theuer.1) Die Gottheit ist die Urpersönlichkeit, das eigene Sein im vollsten Sinne, welches alle Gründe seines Seins in sich selbst enthält.2) Die Bhagavad-Gita ist die der höchsten und wahrer Begeisterung entflossene poetische Darstellung der philosophischen Yogalehre, - sie ist nach W. v. Humboldts Urtheil, S. 55, die schönste philosophische Dichtung, welche von irgend einer Nation uns erhalten ist. Sie bewahrt noch die ganze Unbefangenheit der Naturpoesie, während die griechischen philosophischen Dichtungen schon in dem deutlichen Bewusstsein ihrer Kunst entstanden sind. - Darin aber, dass der Inder in dem Verlieren oder Aufhören seines Ich in der Gottheit das höchste Gut des Menschen, die Seligkeit erblickt, liegt das Wesentliche Dessen, was das indische und das eigentliche orientalische Leben von dem griechisch-römischen und christlich-germanischen unterscheidet. Wie den orientalischen Staaten die Freiheit des Individuums, das Privatrecht fehlt und vor der Allgewalt eines Einzigen sich das Recht und die Freiheit aller Uebrigen beugt, sich gleichsam in Nichts auflöset, - wie die orientalischen Bauten und Kunstwerke noch in sich kein Mass und selbstbewusstes Ziel gefunden haben, sondern nur das Masslose, das Kolossale zu erreichen streben, und statt in dem massvollen Gesetze der Schönheit sich in dem Unförmlichen und Unnatürlichen gefallen: ebenso hat der Glaube der Inder über das unsterbliche Geistesleben noch nicht den Begriff der individuellen und selbstständigen Fortdauer der Seele gefasst, weil ihnen überhaupt die allen Menschen zukommende Freiheit und das Bewusstsein um dieselbe noch abging. Das individuelle Sein, das menschliche Mass und das menschliche Leben die menschliche Freiheit im

1) Humboldt, a. a. O., S. 43 vergl. mit S. 21 und 33 ff.
2) Hurnboldt, a. a. O., S. 24.

Gott ist gleichgesinnt gegen Alle; wer sich zu ihm wendet, der Brahmane oder ein Knecht, alle können den höchsten Weg einschlagen; aber die wohlwollend gegen alle Geschöpfe Gesinnten, die Tugendhaften, die Gleichmüthigen und Frommen sind Gott theuer.1) Die Gottheit ist die Urpersönlichkeit, das eigene Sein im vollsten Sinne, welches alle Gründe seines Seins in sich selbst enthält.2) Die Bhagavad-Gítá ist die der höchsten und wahrer Begeisterung entflossene poetische Darstellung der philosophischen Yogalehre, – sie ist nach W. v. Humboldts Urtheil, S. 55, die schönste philosophische Dichtung, welche von irgend einer Nation uns erhalten ist. Sie bewahrt noch die ganze Unbefangenheit der Naturpoesie, während die griechischen philosophischen Dichtungen schon in dem deutlichen Bewusstsein ihrer Kunst entstanden sind. – Darin aber, dass der Inder in dem Verlieren oder Aufhören seines Ich in der Gottheit das höchste Gut des Menschen, die Seligkeit erblickt, liegt das Wesentliche Dessen, was das indische und das eigentliche orientalische Leben von dem griechisch-römischen und christlich-germanischen unterscheidet. Wie den orientalischen Staaten die Freiheit des Individuums, das Privatrecht fehlt und vor der Allgewalt eines Einzigen sich das Recht und die Freiheit aller Uebrigen beugt, sich gleichsam in Nichts auflöset, – wie die orientalischen Bauten und Kunstwerke noch in sich kein Mass und selbstbewusstes Ziel gefunden haben, sondern nur das Masslose, das Kolossale zu erreichen streben, und statt in dem massvollen Gesetze der Schönheit sich in dem Unförmlichen und Unnatürlichen gefallen: ebenso hat der Glaube der Inder über das unsterbliche Geistesleben noch nicht den Begriff der individuellen und selbstständigen Fortdauer der Seele gefasst, weil ihnen überhaupt die allen Menschen zukommende Freiheit und das Bewusstsein um dieselbe noch abging. Das individuelle Sein, das menschliche Mass und das menschliche Leben die menschliche Freiheit im

1) Humboldt, a. a. O., S. 43 vergl. mit S. 21 und 33 ff.
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 enthält.<note place="foot" n="2)">Hurnboldt, a. a. O., S. 24. </note> Die Bhagavad-Gítá ist die der
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 sie ist nach W. v. Humboldts Urtheil, S. 55, die schönste philosophische Dichtung, welche von irgend
 einer Nation uns erhalten ist. Sie bewahrt noch die ganze Unbefangenheit der Naturpoesie, während
 die griechischen philosophischen Dichtungen schon in dem deutlichen Bewusstsein ihrer Kunst
 entstanden sind. &#x2013; Darin aber, dass der Inder in dem Verlieren oder Aufhören seines Ich in der
 Gottheit das höchste Gut des Menschen, die Seligkeit erblickt, liegt das Wesentliche Dessen, was das
 indische und das eigentliche orientalische Leben von dem griechisch-römischen und
 christlich-germanischen unterscheidet. Wie den orientalischen Staaten die Freiheit des Individuums,
 das Privatrecht fehlt und vor der Allgewalt eines Einzigen sich das Recht und die Freiheit aller
 Uebrigen beugt, sich gleichsam in Nichts auflöset, &#x2013; wie die orientalischen Bauten und Kunstwerke
 noch in sich kein Mass und selbstbewusstes Ziel gefunden haben, sondern nur das Masslose, das
 Kolossale zu erreichen streben, und statt in dem massvollen Gesetze der Schönheit sich in dem
 Unförmlichen und Unnatürlichen gefallen: ebenso hat der Glaube der Inder über das unsterbliche
 Geistesleben noch nicht den Begriff der individuellen und selbstständigen Fortdauer der Seele
 gefasst, weil ihnen überhaupt die allen Menschen zukommende Freiheit und das Bewusstsein um dieselbe
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 Freiheit im
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[571/0587] Gott ist gleichgesinnt gegen Alle; wer sich zu ihm wendet, der Brahmane oder ein Knecht, alle können den höchsten Weg einschlagen; aber die wohlwollend gegen alle Geschöpfe Gesinnten, die Tugendhaften, die Gleichmüthigen und Frommen sind Gott theuer. 1) Die Gottheit ist die Urpersönlichkeit, das eigene Sein im vollsten Sinne, welches alle Gründe seines Seins in sich selbst enthält. 2) Die Bhagavad-Gítá ist die der höchsten und wahrer Begeisterung entflossene poetische Darstellung der philosophischen Yogalehre, – sie ist nach W. v. Humboldts Urtheil, S. 55, die schönste philosophische Dichtung, welche von irgend einer Nation uns erhalten ist. Sie bewahrt noch die ganze Unbefangenheit der Naturpoesie, während die griechischen philosophischen Dichtungen schon in dem deutlichen Bewusstsein ihrer Kunst entstanden sind. – Darin aber, dass der Inder in dem Verlieren oder Aufhören seines Ich in der Gottheit das höchste Gut des Menschen, die Seligkeit erblickt, liegt das Wesentliche Dessen, was das indische und das eigentliche orientalische Leben von dem griechisch-römischen und christlich-germanischen unterscheidet. Wie den orientalischen Staaten die Freiheit des Individuums, das Privatrecht fehlt und vor der Allgewalt eines Einzigen sich das Recht und die Freiheit aller Uebrigen beugt, sich gleichsam in Nichts auflöset, – wie die orientalischen Bauten und Kunstwerke noch in sich kein Mass und selbstbewusstes Ziel gefunden haben, sondern nur das Masslose, das Kolossale zu erreichen streben, und statt in dem massvollen Gesetze der Schönheit sich in dem Unförmlichen und Unnatürlichen gefallen: ebenso hat der Glaube der Inder über das unsterbliche Geistesleben noch nicht den Begriff der individuellen und selbstständigen Fortdauer der Seele gefasst, weil ihnen überhaupt die allen Menschen zukommende Freiheit und das Bewusstsein um dieselbe noch abging. Das individuelle Sein, das menschliche Mass und das menschliche Leben die menschliche Freiheit im 1) Humboldt, a. a. O., S. 43 vergl. mit S. 21 und 33 ff. 2) Hurnboldt, a. a. O., S. 24.

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Zitationshilfe: Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, Bd. 1. Schaffhausen, 1861, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schauberg_freimaurerei01_1861/587>, abgerufen am 22.11.2024.