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Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, Bd. 1. Schaffhausen, 1861.

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Unterstützungskasse, eine Gildenkasse, eine Zunftkasse war gewissermassen eine Nothwendigkeit, etwas durch die Zeitverhältnisse Gebotenes. Hartwig leitet daher die Gildengenossenschaften nicht sowohl von den alten Opfer- und Gelagsgenossenschaften ab und theilt die von Kemble und Wilda dagegen erhobenen Einwendungen und Bedenken; Wilda namentlich wollte die klösterlichen Verbrüderungen zum Vorbilde der Gildenverbrüderungen machen: sondern Hartwig betrachtet die schon im Laufe des 8ten und 9ten Jahrhunderts auftretenden politischen Gildekorporationen, welche für die Entwickelung des Städtewesens von der grössten Bedeutung geworden sind, als die Folge des staatlichen Bedürfnisses eines wirksamen Schutzes der Freiheit und des Eigenthums, verbunden mit der christlichen Mildthätigkeit und der christlichen Sorge für das Seelenheil. Wir können, abweichend von Hartwig, S. 163, nicht füglich glauben, dass man den Gildengenossenschaften seit dem 8ten Jahrhundert blos deshalb den Namen Gilden sollte beigelegt haben, weil ihre Gastmahle und Zechen den heidnischen Opferschmausereien ähnlich gewesen, sondern es muss in der Sache und der Einrichtung selbst eine gewisse Uebereinstimmung und ein gewisser Zusammenhang gewesen sein, und blos aus diesem Grunde wählte man für die alte Einrichtung den alten Namen; die christliche Geistlichkeit suchte aller Wahrscheinlichkeit nach auch in dieser Richtung das Heidenthum zu christianisiren, das Christenthum an das Heidenthum anzuknüpfen. In den romanischen christlichen Ländern mögen schon vor dem achten Jahrhundert christliche Unterstützungs- und Armenvereine und Verbrüderungen bestanden haben, und namentlich mögen die Klöster solche gebildet und unterstützt haben; ebenso mögen in Nord- und Süddeutschland die so häufig vorkommenden Kalandsgilden oder auch kurzweg Kalanden (fraternitates Kalendarum, sich an den Kalenden oder dem ersten Tage jeden Monats versammelnde Vereine) in ihren nächsten Zwecken denselben nachgebildet gewesen sein: allein hierdurch werden die germanischen politischen Gilden noch nicht genügend erklärt; wohl aber sind sie dieses, wenn schon die alten Opfergilden ein gewisser volksthümlicher und politischer Verein waren, welcher

Unterstützungskasse, eine Gildenkasse, eine Zunftkasse war gewissermassen eine Nothwendigkeit, etwas durch die Zeitverhältnisse Gebotenes. Hartwig leitet daher die Gildengenossenschaften nicht sowohl von den alten Opfer- und Gelagsgenossenschaften ab und theilt die von Kemble und Wilda dagegen erhobenen Einwendungen und Bedenken; Wilda namentlich wollte die klösterlichen Verbrüderungen zum Vorbilde der Gildenverbrüderungen machen: sondern Hartwig betrachtet die schon im Laufe des 8ten und 9ten Jahrhunderts auftretenden politischen Gildekorporationen, welche für die Entwickelung des Städtewesens von der grössten Bedeutung geworden sind, als die Folge des staatlichen Bedürfnisses eines wirksamen Schutzes der Freiheit und des Eigenthums, verbunden mit der christlichen Mildthätigkeit und der christlichen Sorge für das Seelenheil. Wir können, abweichend von Hartwig, S. 163, nicht füglich glauben, dass man den Gildengenossenschaften seit dem 8ten Jahrhundert blos deshalb den Namen Gilden sollte beigelegt haben, weil ihre Gastmahle und Zechen den heidnischen Opferschmausereien ähnlich gewesen, sondern es muss in der Sache und der Einrichtung selbst eine gewisse Uebereinstimmung und ein gewisser Zusammenhang gewesen sein, und blos aus diesem Grunde wählte man für die alte Einrichtung den alten Namen; die christliche Geistlichkeit suchte aller Wahrscheinlichkeit nach auch in dieser Richtung das Heidenthum zu christianisiren, das Christenthum an das Heidenthum anzuknüpfen. In den romanischen christlichen Ländern mögen schon vor dem achten Jahrhundert christliche Unterstützungs- und Armenvereine und Verbrüderungen bestanden haben, und namentlich mögen die Klöster solche gebildet und unterstützt haben; ebenso mögen in Nord- und Süddeutschland die so häufig vorkommenden Kalandsgilden oder auch kurzweg Kalanden (fraternitates Kalendarum, sich an den Kalenden oder dem ersten Tage jeden Monats versammelnde Vereine) in ihren nächsten Zwecken denselben nachgebildet gewesen sein: allein hierdurch werden die germanischen politischen Gilden noch nicht genügend erklärt; wohl aber sind sie dieses, wenn schon die alten Opfergilden ein gewisser volksthümlicher und politischer Verein waren, welcher

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 erhobenen Einwendungen und Bedenken; Wilda namentlich wollte die klösterlichen Verbrüderungen zum
 Vorbilde der Gildenverbrüderungen machen: sondern Hartwig betrachtet die schon im Laufe des 8ten und
 9ten Jahrhunderts auftretenden politischen Gildekorporationen, welche für die Entwickelung des
 Städtewesens von der grössten Bedeutung geworden sind, als die Folge des staatlichen Bedürfnisses
 eines wirksamen Schutzes der Freiheit und des Eigenthums, verbunden mit der christlichen
 Mildthätigkeit und der christlichen Sorge für das Seelenheil. Wir können, abweichend von Hartwig, S.
 163, nicht füglich glauben, dass man den Gildengenossenschaften seit dem 8ten Jahrhundert blos
 deshalb den Namen Gilden sollte beigelegt haben, weil ihre Gastmahle und Zechen den heidnischen
 Opferschmausereien ähnlich gewesen, sondern es muss in der Sache und der Einrichtung selbst eine
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 wählte man für die alte Einrichtung den alten Namen; die christliche Geistlichkeit suchte aller
 Wahrscheinlichkeit nach auch in dieser Richtung das Heidenthum zu christianisiren, das Christenthum
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 Jahrhundert christliche Unterstützungs- und Armenvereine und Verbrüderungen bestanden haben, und
 namentlich mögen die Klöster solche gebildet und unterstützt haben; ebenso mögen in Nord- und
 Süddeutschland die so häufig vorkommenden Kalandsgilden oder auch kurzweg Kalanden (fraternitates
 Kalendarum, sich an den Kalenden oder dem ersten Tage jeden Monats versammelnde Vereine) in ihren
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[644/0660] Unterstützungskasse, eine Gildenkasse, eine Zunftkasse war gewissermassen eine Nothwendigkeit, etwas durch die Zeitverhältnisse Gebotenes. Hartwig leitet daher die Gildengenossenschaften nicht sowohl von den alten Opfer- und Gelagsgenossenschaften ab und theilt die von Kemble und Wilda dagegen erhobenen Einwendungen und Bedenken; Wilda namentlich wollte die klösterlichen Verbrüderungen zum Vorbilde der Gildenverbrüderungen machen: sondern Hartwig betrachtet die schon im Laufe des 8ten und 9ten Jahrhunderts auftretenden politischen Gildekorporationen, welche für die Entwickelung des Städtewesens von der grössten Bedeutung geworden sind, als die Folge des staatlichen Bedürfnisses eines wirksamen Schutzes der Freiheit und des Eigenthums, verbunden mit der christlichen Mildthätigkeit und der christlichen Sorge für das Seelenheil. Wir können, abweichend von Hartwig, S. 163, nicht füglich glauben, dass man den Gildengenossenschaften seit dem 8ten Jahrhundert blos deshalb den Namen Gilden sollte beigelegt haben, weil ihre Gastmahle und Zechen den heidnischen Opferschmausereien ähnlich gewesen, sondern es muss in der Sache und der Einrichtung selbst eine gewisse Uebereinstimmung und ein gewisser Zusammenhang gewesen sein, und blos aus diesem Grunde wählte man für die alte Einrichtung den alten Namen; die christliche Geistlichkeit suchte aller Wahrscheinlichkeit nach auch in dieser Richtung das Heidenthum zu christianisiren, das Christenthum an das Heidenthum anzuknüpfen. In den romanischen christlichen Ländern mögen schon vor dem achten Jahrhundert christliche Unterstützungs- und Armenvereine und Verbrüderungen bestanden haben, und namentlich mögen die Klöster solche gebildet und unterstützt haben; ebenso mögen in Nord- und Süddeutschland die so häufig vorkommenden Kalandsgilden oder auch kurzweg Kalanden (fraternitates Kalendarum, sich an den Kalenden oder dem ersten Tage jeden Monats versammelnde Vereine) in ihren nächsten Zwecken denselben nachgebildet gewesen sein: allein hierdurch werden die germanischen politischen Gilden noch nicht genügend erklärt; wohl aber sind sie dieses, wenn schon die alten Opfergilden ein gewisser volksthümlicher und politischer Verein waren, welcher

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Zitationshilfe: Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, Bd. 1. Schaffhausen, 1861, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schauberg_freimaurerei01_1861/660>, abgerufen am 21.11.2024.