ein, den Ursachen der Begebenheiten und Erschei- nungen nachzuspüren; die Begriffe von Zufall und Nothwendigkeit sind für sie völlig gleichbedeu- tend: sie denken nicht daran, daß die Natur sich nach bestimmten Gesetzen richte; sondern formen sich die Vorstellung von derselben nach dem Mu- ster ihres verworrenen, chaotischen Verstandes.
Dieser Verworrenheit, Trägheit und Stumpf- heit des Verstandes sind die Jrrthümer und die ewigen Verwechselungen der Dinge mit einander zuzuschreiben. Wo ein Gegenstand wahrgenom- men wird, der mit einem bekannten nur einige Merkmale gemein hat, wird er ganz für diesen genommen. Mehrere wilde Nationen legen alle Eigenschaften der Menschen auch den Thieren bey, und sind freylich, weil sie sich selbst desjeni- gen, was den Hauptunterschied zwischen Menschen und Thier macht, nicht bewußt sind, auch nicht im Stande sich darnach von denselben zu unterscheiden. Die Kamtschadalen nennen beym Fischen oder Jagen die Thiere nie bey ihrem Na- men, weil sie fürchten, dieselben möchten ihr Vorhaben dadurch entdecken und in Sicherheit zu kommen suchen. Die Lappen, Finnen und ähn- liche Völker nennen den Bären den Alten mit dem Pelz, und entschuldigen sich gegen ihn, wenn er erlegt ist, sehr umständlich dadurch, daß nicht sie die Ursach seines Todes wären, sondern die Beile
der
ein, den Urſachen der Begebenheiten und Erſchei- nungen nachzuſpuͤren; die Begriffe von Zufall und Nothwendigkeit ſind fuͤr ſie voͤllig gleichbedeu- tend: ſie denken nicht daran, daß die Natur ſich nach beſtimmten Geſetzen richte; ſondern formen ſich die Vorſtellung von derſelben nach dem Mu- ſter ihres verworrenen, chaotiſchen Verſtandes.
Dieſer Verworrenheit, Traͤgheit und Stumpf- heit des Verſtandes ſind die Jrrthuͤmer und die ewigen Verwechſelungen der Dinge mit einander zuzuſchreiben. Wo ein Gegenſtand wahrgenom- men wird, der mit einem bekannten nur einige Merkmale gemein hat, wird er ganz fuͤr dieſen genommen. Mehrere wilde Nationen legen alle Eigenſchaften der Menſchen auch den Thieren bey, und ſind freylich, weil ſie ſich ſelbſt desjeni- gen, was den Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Thier macht, nicht bewußt ſind, auch nicht im Stande ſich darnach von denſelben zu unterſcheiden. Die Kamtſchadalen nennen beym Fiſchen oder Jagen die Thiere nie bey ihrem Na- men, weil ſie fuͤrchten, dieſelben moͤchten ihr Vorhaben dadurch entdecken und in Sicherheit zu kommen ſuchen. Die Lappen, Finnen und aͤhn- liche Voͤlker nennen den Baͤren den Alten mit dem Pelz, und entſchuldigen ſich gegen ihn, wenn er erlegt iſt, ſehr umſtaͤndlich dadurch, daß nicht ſie die Urſach ſeines Todes waͤren, ſondern die Beile
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ein, den Urſachen der Begebenheiten und Erſchei-
nungen nachzuſpuͤren; die Begriffe von Zufall
und Nothwendigkeit ſind fuͤr ſie voͤllig gleichbedeu-
tend: ſie denken nicht daran, daß die Natur ſich
nach beſtimmten Geſetzen richte; ſondern formen
ſich die Vorſtellung von derſelben nach dem Mu-
ſter ihres verworrenen, chaotiſchen Verſtandes.
Dieſer Verworrenheit, Traͤgheit und Stumpf-
heit des Verſtandes ſind die Jrrthuͤmer und die
ewigen Verwechſelungen der Dinge mit einander
zuzuſchreiben. Wo ein Gegenſtand wahrgenom-
men wird, der mit einem bekannten nur einige
Merkmale gemein hat, wird er ganz fuͤr dieſen
genommen. Mehrere wilde Nationen legen alle
Eigenſchaften der Menſchen auch den Thieren
bey, und ſind freylich, weil ſie ſich ſelbſt desjeni-
gen, was den Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen
und Thier macht, nicht bewußt ſind, auch
nicht im Stande ſich darnach von denſelben zu
unterſcheiden. Die Kamtſchadalen nennen beym
Fiſchen oder Jagen die Thiere nie bey ihrem Na-
men, weil ſie fuͤrchten, dieſelben moͤchten ihr
Vorhaben dadurch entdecken und in Sicherheit zu
kommen ſuchen. Die Lappen, Finnen und aͤhn-
liche Voͤlker nennen den Baͤren den Alten mit dem
Pelz, und entſchuldigen ſich gegen ihn, wenn er
erlegt iſt, ſehr umſtaͤndlich dadurch, daß nicht ſie
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/181>, abgerufen am 21.11.2024.
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