Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

ben im August 1710, nachdem der Befehl von
Gott ausging."

Die Ziehenschen Prophezeyungen und Offen-
barungen aus der Cabbala sind noch in zu frischem
Andenken, als daß ich weiter etwas zu thun hätte,
als an sie zu erinnern.

Die moralische Schwärmerey zeigt sich in
einem ausschweifenden und übelverstandnen Pflicht-
eifer, und hat, wenn sie auch einzig und allein
nach Vorschriften der gesetzgebenden Vernunft zu
handeln vorgiebt, so sehr als irgend eine Art Lei-
denschaftlichkeit und Verblendung der Phantasie
zum Grunde. Dies zeigt sie durch ihre Einseitig-
keit, indem die von ihr entzündeten gewöhnlich
eine Art von Pflichten über alles erheben, und
dagegen alle übrigen gering achten, ja selbst jene,
eben weil sie sie übertreiben, verletzen.

Gemeinhin rechnet man zur moralischen
Schwärmerey die egoistische, freundschaftliche,
patriotische
und religiöse. Von der erstern
werde ich bey den selbstischen Leidenschaften zu re-
den Gelegenheit haben; von der freundschaftlichen
und patriotischen sind, besonders zu unsern egoi-
stischen
Zeiten, wenig Beyspiele; die religiöse,
als die sonderbarste und merkwürdigste, verdient
eine genauere Erwägung.

Folgende Züge pflegen sich bey den religiö-
sen Schwärmern zu entdecken: doch bey dem ei-

nen

ben im Auguſt 1710, nachdem der Befehl von
Gott ausging.„

Die Ziehenſchen Prophezeyungen und Offen-
barungen aus der Cabbala ſind noch in zu friſchem
Andenken, als daß ich weiter etwas zu thun haͤtte,
als an ſie zu erinnern.

Die moraliſche Schwaͤrmerey zeigt ſich in
einem ausſchweifenden und uͤbelverſtandnen Pflicht-
eifer, und hat, wenn ſie auch einzig und allein
nach Vorſchriften der geſetzgebenden Vernunft zu
handeln vorgiebt, ſo ſehr als irgend eine Art Lei-
denſchaftlichkeit und Verblendung der Phantaſie
zum Grunde. Dies zeigt ſie durch ihre Einſeitig-
keit, indem die von ihr entzuͤndeten gewoͤhnlich
eine Art von Pflichten uͤber alles erheben, und
dagegen alle uͤbrigen gering achten, ja ſelbſt jene,
eben weil ſie ſie uͤbertreiben, verletzen.

Gemeinhin rechnet man zur moraliſchen
Schwaͤrmerey die egoiſtiſche, freundſchaftliche,
patriotiſche
und religioͤſe. Von der erſtern
werde ich bey den ſelbſtiſchen Leidenſchaften zu re-
den Gelegenheit haben; von der freundſchaftlichen
und patriotiſchen ſind, beſonders zu unſern egoi-
ſtiſchen
Zeiten, wenig Beyſpiele; die religioͤſe,
als die ſonderbarſte und merkwuͤrdigſte, verdient
eine genauere Erwaͤgung.

Folgende Zuͤge pflegen ſich bey den religioͤ-
ſen Schwaͤrmern zu entdecken: doch bey dem ei-

nen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0277" n="253"/>
ben im Augu&#x017F;t 1710, nachdem der Befehl von<lb/>
Gott ausging.&#x201E;</p><lb/>
          <p>Die Ziehen&#x017F;chen Prophezeyungen und Offen-<lb/>
barungen aus der Cabbala &#x017F;ind noch in zu fri&#x017F;chem<lb/>
Andenken, als daß ich weiter etwas zu thun ha&#x0364;tte,<lb/>
als an &#x017F;ie zu erinnern.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#b">morali&#x017F;che Schwa&#x0364;rmerey</hi> zeigt &#x017F;ich in<lb/>
einem aus&#x017F;chweifenden und u&#x0364;belver&#x017F;tandnen Pflicht-<lb/>
eifer, und hat, wenn &#x017F;ie auch einzig und allein<lb/>
nach Vor&#x017F;chriften der ge&#x017F;etzgebenden Vernunft zu<lb/>
handeln vorgiebt, &#x017F;o &#x017F;ehr als irgend eine Art Lei-<lb/>
den&#x017F;chaftlichkeit und Verblendung der Phanta&#x017F;ie<lb/>
zum Grunde. Dies zeigt &#x017F;ie durch ihre Ein&#x017F;eitig-<lb/>
keit, indem die von ihr entzu&#x0364;ndeten gewo&#x0364;hnlich<lb/>
eine Art von Pflichten u&#x0364;ber alles erheben, und<lb/>
dagegen alle u&#x0364;brigen gering achten, ja &#x017F;elb&#x017F;t jene,<lb/>
eben weil &#x017F;ie &#x017F;ie u&#x0364;bertreiben, verletzen.</p><lb/>
          <p>Gemeinhin rechnet man zur morali&#x017F;chen<lb/>
Schwa&#x0364;rmerey die <hi rendition="#b">egoi&#x017F;ti&#x017F;che, freund&#x017F;chaftliche,<lb/>
patrioti&#x017F;che</hi> und <hi rendition="#b">religio&#x0364;&#x017F;e</hi>. Von der er&#x017F;tern<lb/>
werde ich bey den &#x017F;elb&#x017F;ti&#x017F;chen Leiden&#x017F;chaften zu re-<lb/>
den Gelegenheit haben; von der freund&#x017F;chaftlichen<lb/>
und patrioti&#x017F;chen &#x017F;ind, be&#x017F;onders zu un&#x017F;ern <hi rendition="#b">egoi-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;chen</hi> Zeiten, wenig Bey&#x017F;piele; die religio&#x0364;&#x017F;e,<lb/>
als die &#x017F;onderbar&#x017F;te und merkwu&#x0364;rdig&#x017F;te, verdient<lb/>
eine genauere Erwa&#x0364;gung.</p><lb/>
          <p>Folgende Zu&#x0364;ge pflegen &#x017F;ich bey den religio&#x0364;-<lb/>
&#x017F;en Schwa&#x0364;rmern zu entdecken: doch bey dem ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0277] ben im Auguſt 1710, nachdem der Befehl von Gott ausging.„ Die Ziehenſchen Prophezeyungen und Offen- barungen aus der Cabbala ſind noch in zu friſchem Andenken, als daß ich weiter etwas zu thun haͤtte, als an ſie zu erinnern. Die moraliſche Schwaͤrmerey zeigt ſich in einem ausſchweifenden und uͤbelverſtandnen Pflicht- eifer, und hat, wenn ſie auch einzig und allein nach Vorſchriften der geſetzgebenden Vernunft zu handeln vorgiebt, ſo ſehr als irgend eine Art Lei- denſchaftlichkeit und Verblendung der Phantaſie zum Grunde. Dies zeigt ſie durch ihre Einſeitig- keit, indem die von ihr entzuͤndeten gewoͤhnlich eine Art von Pflichten uͤber alles erheben, und dagegen alle uͤbrigen gering achten, ja ſelbſt jene, eben weil ſie ſie uͤbertreiben, verletzen. Gemeinhin rechnet man zur moraliſchen Schwaͤrmerey die egoiſtiſche, freundſchaftliche, patriotiſche und religioͤſe. Von der erſtern werde ich bey den ſelbſtiſchen Leidenſchaften zu re- den Gelegenheit haben; von der freundſchaftlichen und patriotiſchen ſind, beſonders zu unſern egoi- ſtiſchen Zeiten, wenig Beyſpiele; die religioͤſe, als die ſonderbarſte und merkwuͤrdigſte, verdient eine genauere Erwaͤgung. Folgende Zuͤge pflegen ſich bey den religioͤ- ſen Schwaͤrmern zu entdecken: doch bey dem ei- nen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/277
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/277>, abgerufen am 21.11.2024.