Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Zur religiösen Schwärmerey kann besonders
der erste Unterricht in der Religion außerordent-
lich leicht veranlassen. Wenn die Gottheit zu
sinnlich dargestellt, zu viel auf Gefühle und Glau-
ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und
mystisch ist, und die unschuldigsten Aeußerungen
menschlicher Neigungen und Gefühle zur Sünde
gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die
Phantasie nicht mit schädlichen wunderbaren ver-
worrnen Vorstellungen erfüllt wird, welche das
Gemüth beunruhigen und aus seinem Gleichge-
wicht bringen können? Oft sind es die Aus-
schweifungen der frühern Jahre besonders in der
Wollust, welche die Natur aus ihrem Gleise
drängen, und ihr auf diese Weise an dem Elen-
den selbst die schrecklichste Rache verschaffen. Denn
die edelsten Säfte werden dadurch verzehrt, die
Nerven erschlafft, ihr ganzes Gebäude wird erschüt-
tert, und die Phantasie äußerst reizbar und un-
ordentlich. Dazu kömmt von der andern Seite
die Qual des Gewissens, und der Unglückliche
kömmt in ein Gedränge, das ihn in ewigen Krei-
sen herumjagt, und alle Besonnenheit wegnimmt.

Das sicherste Mittel sich vor dieser Unord-
nung in seiner Natur zu verwahren, ist Ordnung
in seiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten
an sich selbst, alle seine Kräfte ins Gleichgewicht
zu bringen und sie darin zu erhalten sucht, seinen

Ver-

Zur religioͤſen Schwaͤrmerey kann beſonders
der erſte Unterricht in der Religion außerordent-
lich leicht veranlaſſen. Wenn die Gottheit zu
ſinnlich dargeſtellt, zu viel auf Gefuͤhle und Glau-
ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und
myſtiſch iſt, und die unſchuldigſten Aeußerungen
menſchlicher Neigungen und Gefuͤhle zur Suͤnde
gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die
Phantaſie nicht mit ſchaͤdlichen wunderbaren ver-
worrnen Vorſtellungen erfuͤllt wird, welche das
Gemuͤth beunruhigen und aus ſeinem Gleichge-
wicht bringen koͤnnen? Oft ſind es die Aus-
ſchweifungen der fruͤhern Jahre beſonders in der
Wolluſt, welche die Natur aus ihrem Gleiſe
draͤngen, und ihr auf dieſe Weiſe an dem Elen-
den ſelbſt die ſchrecklichſte Rache verſchaffen. Denn
die edelſten Saͤfte werden dadurch verzehrt, die
Nerven erſchlafft, ihr ganzes Gebaͤude wird erſchuͤt-
tert, und die Phantaſie aͤußerſt reizbar und un-
ordentlich. Dazu koͤmmt von der andern Seite
die Qual des Gewiſſens, und der Ungluͤckliche
koͤmmt in ein Gedraͤnge, das ihn in ewigen Krei-
ſen herumjagt, und alle Beſonnenheit wegnimmt.

Das ſicherſte Mittel ſich vor dieſer Unord-
nung in ſeiner Natur zu verwahren, iſt Ordnung
in ſeiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten
an ſich ſelbſt, alle ſeine Kraͤfte ins Gleichgewicht
zu bringen und ſie darin zu erhalten ſucht, ſeinen

Ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0286" n="262"/>
          <p>Zur religio&#x0364;&#x017F;en Schwa&#x0364;rmerey kann be&#x017F;onders<lb/>
der er&#x017F;te Unterricht in der Religion außerordent-<lb/>
lich leicht veranla&#x017F;&#x017F;en. Wenn die Gottheit zu<lb/>
&#x017F;innlich darge&#x017F;tellt, zu viel auf Gefu&#x0364;hle und Glau-<lb/>
ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und<lb/>
my&#x017F;ti&#x017F;ch i&#x017F;t, und die un&#x017F;chuldig&#x017F;ten Aeußerungen<lb/>
men&#x017F;chlicher Neigungen und Gefu&#x0364;hle zur Su&#x0364;nde<lb/>
gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die<lb/>
Phanta&#x017F;ie nicht mit &#x017F;cha&#x0364;dlichen wunderbaren ver-<lb/>
worrnen Vor&#x017F;tellungen erfu&#x0364;llt wird, welche das<lb/>
Gemu&#x0364;th beunruhigen und aus &#x017F;einem Gleichge-<lb/>
wicht bringen ko&#x0364;nnen? Oft &#x017F;ind es die Aus-<lb/>
&#x017F;chweifungen der fru&#x0364;hern Jahre be&#x017F;onders in der<lb/>
Wollu&#x017F;t, welche die Natur aus ihrem Glei&#x017F;e<lb/>
dra&#x0364;ngen, und ihr auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e an dem Elen-<lb/>
den &#x017F;elb&#x017F;t die &#x017F;chrecklich&#x017F;te Rache ver&#x017F;chaffen. Denn<lb/>
die edel&#x017F;ten Sa&#x0364;fte werden dadurch verzehrt, die<lb/>
Nerven er&#x017F;chlafft, ihr ganzes Geba&#x0364;ude wird er&#x017F;chu&#x0364;t-<lb/>
tert, und die Phanta&#x017F;ie a&#x0364;ußer&#x017F;t reizbar und un-<lb/>
ordentlich. Dazu ko&#x0364;mmt von der andern Seite<lb/>
die Qual des Gewi&#x017F;&#x017F;ens, und der Unglu&#x0364;ckliche<lb/>
ko&#x0364;mmt in ein Gedra&#x0364;nge, das ihn in ewigen Krei-<lb/>
&#x017F;en herumjagt, und alle Be&#x017F;onnenheit wegnimmt.</p><lb/>
          <p>Das &#x017F;icher&#x017F;te Mittel &#x017F;ich vor die&#x017F;er Unord-<lb/>
nung in &#x017F;einer Natur zu verwahren, i&#x017F;t Ordnung<lb/>
in &#x017F;einer Lebensart. Wer durch treues Arbeiten<lb/>
an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, alle &#x017F;eine Kra&#x0364;fte ins Gleichgewicht<lb/>
zu bringen und &#x017F;ie darin zu erhalten &#x017F;ucht, &#x017F;einen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ver-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0286] Zur religioͤſen Schwaͤrmerey kann beſonders der erſte Unterricht in der Religion außerordent- lich leicht veranlaſſen. Wenn die Gottheit zu ſinnlich dargeſtellt, zu viel auf Gefuͤhle und Glau- ben gedrungen wird, der Vortrag zu bildlich und myſtiſch iſt, und die unſchuldigſten Aeußerungen menſchlicher Neigungen und Gefuͤhle zur Suͤnde gemacht werden, wie kann es fehlen, daß da die Phantaſie nicht mit ſchaͤdlichen wunderbaren ver- worrnen Vorſtellungen erfuͤllt wird, welche das Gemuͤth beunruhigen und aus ſeinem Gleichge- wicht bringen koͤnnen? Oft ſind es die Aus- ſchweifungen der fruͤhern Jahre beſonders in der Wolluſt, welche die Natur aus ihrem Gleiſe draͤngen, und ihr auf dieſe Weiſe an dem Elen- den ſelbſt die ſchrecklichſte Rache verſchaffen. Denn die edelſten Saͤfte werden dadurch verzehrt, die Nerven erſchlafft, ihr ganzes Gebaͤude wird erſchuͤt- tert, und die Phantaſie aͤußerſt reizbar und un- ordentlich. Dazu koͤmmt von der andern Seite die Qual des Gewiſſens, und der Ungluͤckliche koͤmmt in ein Gedraͤnge, das ihn in ewigen Krei- ſen herumjagt, und alle Beſonnenheit wegnimmt. Das ſicherſte Mittel ſich vor dieſer Unord- nung in ſeiner Natur zu verwahren, iſt Ordnung in ſeiner Lebensart. Wer durch treues Arbeiten an ſich ſelbſt, alle ſeine Kraͤfte ins Gleichgewicht zu bringen und ſie darin zu erhalten ſucht, ſeinen Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/286
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/286>, abgerufen am 21.11.2024.