sem Getränke reichen zu lassen. "Aber zu was für sinnreichen Mitteln, sagt Herr Vaillant, nimmt nicht die Wohlthätigkeit ihre Zuflucht, wenn es ihr ein Ernst ist, sich werkthätig zu be- weisen! Jch bemerkte nicht ohne Erstaunen, daß diese Wilden den Branntewein im Munde behiel- ten, ohne ihn niederzuschlucken, und daß sie sich ihren Cameraden näherten, um denjenigen, die nichts erhalten hatten, aus ihrem Munde etwas mitzutheilen, so wie die Vögel einander durch den Schnabel die Nahrung reichen." --
Welcher Mensch würde nicht bey dem An- blick dieser rührenden Scene, gefühlt haben, was der edle Reisende fühlte, der sich, von Achtung und Bewunderung durchdrungen, dem Anführer um den Hals warf, und sein ehrwürdiges Ge- sicht mit Thränen benetzte*).
Zu meiner nicht geringern Freude bin ich durch Vaillant belehrt worden, daß es ein irri- ger Glaube sey, welchen ich bisher, verführt durch mehrere Reisebeschreiber, gehegt habe, daß, wie bey einigen andern Wilden, so auch bey den Hottentotten, Alte und Kranke verachtet und verstoßen seyen. Herr Vaillant wurde selbst von dem Anführer der Gonaquas-Hottentot- ten gebeten, die Greise, welche ihre Hütte nicht verlassen konnten, zu besuchen, und fand in den
Hütten
*) Das. 2. Th. 103 f.
ſem Getraͤnke reichen zu laſſen. „Aber zu was fuͤr ſinnreichen Mitteln, ſagt Herr Vaillant, nimmt nicht die Wohlthaͤtigkeit ihre Zuflucht, wenn es ihr ein Ernſt iſt, ſich werkthaͤtig zu be- weiſen! Jch bemerkte nicht ohne Erſtaunen, daß dieſe Wilden den Branntewein im Munde behiel- ten, ohne ihn niederzuſchlucken, und daß ſie ſich ihren Cameraden naͤherten, um denjenigen, die nichts erhalten hatten, aus ihrem Munde etwas mitzutheilen, ſo wie die Voͤgel einander durch den Schnabel die Nahrung reichen.„ —
Welcher Menſch wuͤrde nicht bey dem An- blick dieſer ruͤhrenden Scene, gefuͤhlt haben, was der edle Reiſende fuͤhlte, der ſich, von Achtung und Bewunderung durchdrungen, dem Anfuͤhrer um den Hals warf, und ſein ehrwuͤrdiges Ge- ſicht mit Thraͤnen benetzte*).
Zu meiner nicht geringern Freude bin ich durch Vaillant belehrt worden, daß es ein irri- ger Glaube ſey, welchen ich bisher, verfuͤhrt durch mehrere Reiſebeſchreiber, gehegt habe, daß, wie bey einigen andern Wilden, ſo auch bey den Hottentotten, Alte und Kranke verachtet und verſtoßen ſeyen. Herr Vaillant wurde ſelbſt von dem Anfuͤhrer der Gonaquas-Hottentot- ten gebeten, die Greiſe, welche ihre Huͤtte nicht verlaſſen konnten, zu beſuchen, und fand in den
Huͤtten
*) Daſ. 2. Th. 103 f.
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ſem Getraͤnke reichen zu laſſen. „Aber zu was
fuͤr ſinnreichen Mitteln, ſagt Herr Vaillant,
nimmt nicht die Wohlthaͤtigkeit ihre Zuflucht,
wenn es ihr ein Ernſt iſt, ſich werkthaͤtig zu be-
weiſen! Jch bemerkte nicht ohne Erſtaunen, daß
dieſe Wilden den Branntewein im Munde behiel-
ten, ohne ihn niederzuſchlucken, und daß ſie ſich
ihren Cameraden naͤherten, um denjenigen, die
nichts erhalten hatten, aus ihrem Munde etwas
mitzutheilen, ſo wie die Voͤgel einander durch den
Schnabel die Nahrung reichen.„ —
Welcher Menſch wuͤrde nicht bey dem An-
blick dieſer ruͤhrenden Scene, gefuͤhlt haben, was
der edle Reiſende fuͤhlte, der ſich, von Achtung
und Bewunderung durchdrungen, dem Anfuͤhrer
um den Hals warf, und ſein ehrwuͤrdiges Ge-
ſicht mit Thraͤnen benetzte *).
Zu meiner nicht geringern Freude bin ich
durch Vaillant belehrt worden, daß es ein irri-
ger Glaube ſey, welchen ich bisher, verfuͤhrt
durch mehrere Reiſebeſchreiber, gehegt habe, daß,
wie bey einigen andern Wilden, ſo auch bey den
Hottentotten, Alte und Kranke verachtet und
verſtoßen ſeyen. Herr Vaillant wurde ſelbſt
von dem Anfuͤhrer der Gonaquas-Hottentot-
ten gebeten, die Greiſe, welche ihre Huͤtte nicht
verlaſſen konnten, zu beſuchen, und fand in den
Huͤtten
*) Daſ. 2. Th. 103 f.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/222>, abgerufen am 24.11.2024.
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