sey, die Sympathie mit demselben. Man sym- pathisirt aus dem Grunde nicht mit dem Zorni- gen, aber wohl mit dem, wider welchen der Zorn sich richtet; den Fall ausgenommen, wo der Zorn uns gerecht dünkt, und selbst ein Beweis der Größe des Leidens ist. Niemand fühlt sich gedrungen den Zorn des Eigensinnigen mit ihm zu theilen; aber, wenn Ariadne, von ihrem The- seus, für den sie Vater und Mutter verließ, und ihr Leben wagte, böslich verlassen, in der Hitze des Zorns die Rache der Götter ruft, hebt sich die Brust des Lesers mit ihr, und er vergißt ihren Zorn und ihre Verwünschungen über der Quelle, aus welcher sie entspringen.
Kinder und schwache Leute reizen das Mit- leiden weit stärker, als solche, bey denen noch Kraft, dem Leiden zu widerstehen, wahrgenom- men wird. Jn jenen sehen wir nur Leiden, nichts, das uns Hofnung für sie einflößen, und die trau- rigen Gefühle, die ihr Anblick erregt, durch an- genehme mildern könnte; diese aber erwecken die Gedanken in uns, daß sie sich selbst helfen kön- nen, und geben uns den Muth, der sie selbst hält, daß das Leiden sie nicht unterdrücken werde.
Jnniges Mitleiden regt sich in der Brust ei- nes jeden, wenn er im zweyten Gesange der Mes- siade, das Ende des kleinen Benoni liest. Sein Vater wird von der Raserey in den Gräbern her-
um-
ſey, die Sympathie mit demſelben. Man ſym- pathiſirt aus dem Grunde nicht mit dem Zorni- gen, aber wohl mit dem, wider welchen der Zorn ſich richtet; den Fall ausgenommen, wo der Zorn uns gerecht duͤnkt, und ſelbſt ein Beweis der Groͤße des Leidens iſt. Niemand fuͤhlt ſich gedrungen den Zorn des Eigenſinnigen mit ihm zu theilen; aber, wenn Ariadne, von ihrem The- ſeus, fuͤr den ſie Vater und Mutter verließ, und ihr Leben wagte, boͤslich verlaſſen, in der Hitze des Zorns die Rache der Goͤtter ruft, hebt ſich die Bruſt des Leſers mit ihr, und er vergißt ihren Zorn und ihre Verwuͤnſchungen uͤber der Quelle, aus welcher ſie entſpringen.
Kinder und ſchwache Leute reizen das Mit- leiden weit ſtaͤrker, als ſolche, bey denen noch Kraft, dem Leiden zu widerſtehen, wahrgenom- men wird. Jn jenen ſehen wir nur Leiden, nichts, das uns Hofnung fuͤr ſie einfloͤßen, und die trau- rigen Gefuͤhle, die ihr Anblick erregt, durch an- genehme mildern koͤnnte; dieſe aber erwecken die Gedanken in uns, daß ſie ſich ſelbſt helfen koͤn- nen, und geben uns den Muth, der ſie ſelbſt haͤlt, daß das Leiden ſie nicht unterdruͤcken werde.
Jnniges Mitleiden regt ſich in der Bruſt ei- nes jeden, wenn er im zweyten Geſange der Meſ- ſiade, das Ende des kleinen Benoni lieſt. Sein Vater wird von der Raſerey in den Graͤbern her-
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ſey, die Sympathie mit demſelben. Man ſym-
pathiſirt aus dem Grunde nicht mit dem Zorni-
gen, aber wohl mit dem, wider welchen der Zorn
ſich richtet; den Fall ausgenommen, wo der
Zorn uns gerecht duͤnkt, und ſelbſt ein Beweis
der Groͤße des Leidens iſt. Niemand fuͤhlt ſich
gedrungen den Zorn des Eigenſinnigen mit ihm zu
theilen; aber, wenn Ariadne, von ihrem The-
ſeus, fuͤr den ſie Vater und Mutter verließ,
und ihr Leben wagte, boͤslich verlaſſen, in der
Hitze des Zorns die Rache der Goͤtter ruft, hebt
ſich die Bruſt des Leſers mit ihr, und er vergißt
ihren Zorn und ihre Verwuͤnſchungen uͤber der
Quelle, aus welcher ſie entſpringen.
Kinder und ſchwache Leute reizen das Mit-
leiden weit ſtaͤrker, als ſolche, bey denen noch
Kraft, dem Leiden zu widerſtehen, wahrgenom-
men wird. Jn jenen ſehen wir nur Leiden, nichts,
das uns Hofnung fuͤr ſie einfloͤßen, und die trau-
rigen Gefuͤhle, die ihr Anblick erregt, durch an-
genehme mildern koͤnnte; dieſe aber erwecken die
Gedanken in uns, daß ſie ſich ſelbſt helfen koͤn-
nen, und geben uns den Muth, der ſie ſelbſt
haͤlt, daß das Leiden ſie nicht unterdruͤcken werde.
Jnniges Mitleiden regt ſich in der Bruſt ei-
nes jeden, wenn er im zweyten Geſange der Meſ-
ſiade, das Ende des kleinen Benoni lieſt. Sein
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/241>, abgerufen am 24.11.2024.
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