Furcht aus einem unvermuthet drohenden und schon gegenwärtigem Uebel ist Schreck. Der sinnliche Eindruck und die sinnlichen Wirkungen des Schrecks sind stärker, als die jeder andern Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das Ueberraschende zu keiner Vorbereitung und Ueber- legung Zeit läßt. Alle Bewegungen des Körpers sowohl als der Seele werden durch den Schreck gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Kör- per zittert, die Haare streben in die Höhe, das Blut kehrt gegen das Herz zurück und stockt. Die Vorstellungen verwirren sich, der Muth sinkt, Bewußtseyn und Besonnenheit gehen verloren.
Da die Furcht dem Herzen ein der Glückselig- keit drohendes Uebel zeigt; so ist wohl die natür- lichste Wirkung derselben, der Wunsch, sich auf irgend eine Weise den gedroheten Nachtheilen des vorschwebenden Uebels zu entziehen. Daher pflegt der Fürchtende seine Aufmerksamkeit auf dasselbe zu richten, um es kennen zu lernen, und besonders diejenigen Sinne zu öfnen, durch wel- che es vor seine Seele tritt. So schielt Damo- cles ohne Unterlaß auf das über seinem Haupte hangende Schwerdt; Dionysius öfnet Ohren und Mund, wenn er ein Geräusch hört, von dem er fürchtet, daß es durch die Tritte und das Ge- murmel seiner Mörder verursacht werde, und wer von der Atmosphäre eines Krankenzimmers
ver-
Furcht aus einem unvermuthet drohenden und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt Schreck. Der ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber- legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers ſowohl als der Seele werden durch den Schreck gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr- per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt, Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren.
Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig- keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr- lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel- che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo- cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge- murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmers
ver-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0328"n="612"/><p>Furcht aus einem unvermuthet drohenden<lb/>
und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt <hirendition="#b">Schreck</hi>. Der<lb/>ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen<lb/>
des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern<lb/>
Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das<lb/>
Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber-<lb/>
legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers<lb/>ſowohl als der Seele werden durch den Schreck<lb/>
gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr-<lb/>
per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das<lb/>
Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die<lb/>
Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt,<lb/>
Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren.</p><lb/><p>Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig-<lb/>
keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr-<lb/>
lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf<lb/>
irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des<lb/>
vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher<lb/>
pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf<lb/>
daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und<lb/>
beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel-<lb/>
che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo-<lb/>
cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte<lb/>
hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und<lb/>
Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er<lb/>
fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge-<lb/>
murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und<lb/>
wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmers<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ver-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[612/0328]
Furcht aus einem unvermuthet drohenden
und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt Schreck. Der
ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen
des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern
Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das
Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber-
legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers
ſowohl als der Seele werden durch den Schreck
gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr-
per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das
Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die
Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt,
Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren.
Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig-
keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr-
lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf
irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des
vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher
pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf
daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und
beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel-
che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo-
cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte
hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und
Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er
fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge-
murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und
wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmers
ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/328>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.