So sprach der Verräther. Schwarze Phan- tasien drängten sich nun vor seine Seele. Er sah den durch seine Vermittelung gemordeten Mes- sias -- sah' ihn Rache in seinem Blute fordern, und -- erwürgte sich*).
Um ein größeres Gut zu erlangen, wird ein kleineres willig aufgeopfert, besonders wenn diese Aufopferung eine Bedingung ist, ohne welche je- nes nicht erlangt werden kann. So ists auch mit dem Leben. Wenn jemand durch die Dahin- gebung desselben ein Gut zu erlangen meynt, wel- ches ihm viel höher und wichtiger dünkt, als sein irdisches Daseyn, so wird die Liebe zu diesem, der Begierde nach jenem vorzüglicherm Gute, wei- chen müssen.
Dulce et decorum est pro patria mori. Süß und edel ist der Tod fürs Vaterland: so denkt der tapfre Held, und giebt, seines Namens Unsterblichkeit wegen, gern sein Leben dahin.
Die indianischen Weiber halten es für eine so große Ehre, als die vorzüglichst geliebtesten Gattinnen, mit des Gatten Leichnam auf dem Holzstoß zu verbrennen, daß sie nach des Man- nes Tode gerichtlich darüber streiten, welche von dem Mann am meisten geliebt sey, und daß die- jenige, welcher der Vorzug der Liebe zuerkannt
wird,
*) Klopstocks Messiade. 7. Gesang.
So ſprach der Verraͤther. Schwarze Phan- taſien draͤngten ſich nun vor ſeine Seele. Er ſah den durch ſeine Vermittelung gemordeten Meſ- ſias — ſah' ihn Rache in ſeinem Blute fordern, und — erwuͤrgte ſich*).
Um ein groͤßeres Gut zu erlangen, wird ein kleineres willig aufgeopfert, beſonders wenn dieſe Aufopferung eine Bedingung iſt, ohne welche je- nes nicht erlangt werden kann. So iſts auch mit dem Leben. Wenn jemand durch die Dahin- gebung deſſelben ein Gut zu erlangen meynt, wel- ches ihm viel hoͤher und wichtiger duͤnkt, als ſein irdiſches Daſeyn, ſo wird die Liebe zu dieſem, der Begierde nach jenem vorzuͤglicherm Gute, wei- chen muͤſſen.
Dulce et decorum eſt pro patria mori. Suͤß und edel iſt der Tod fuͤrs Vaterland: ſo denkt der tapfre Held, und giebt, ſeines Namens Unſterblichkeit wegen, gern ſein Leben dahin.
Die indianiſchen Weiber halten es fuͤr eine ſo große Ehre, als die vorzuͤglichſt geliebteſten Gattinnen, mit des Gatten Leichnam auf dem Holzſtoß zu verbrennen, daß ſie nach des Man- nes Tode gerichtlich daruͤber ſtreiten, welche von dem Mann am meiſten geliebt ſey, und daß die- jenige, welcher der Vorzug der Liebe zuerkannt
wird,
*) Klopſtocks Meſſiade. 7. Geſang.
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So ſprach der Verraͤther. Schwarze Phan-
taſien draͤngten ſich nun vor ſeine Seele. Er
ſah den durch ſeine Vermittelung gemordeten Meſ-
ſias — ſah' ihn Rache in ſeinem Blute fordern,
und — erwuͤrgte ſich *).
Um ein groͤßeres Gut zu erlangen, wird ein
kleineres willig aufgeopfert, beſonders wenn dieſe
Aufopferung eine Bedingung iſt, ohne welche je-
nes nicht erlangt werden kann. So iſts auch
mit dem Leben. Wenn jemand durch die Dahin-
gebung deſſelben ein Gut zu erlangen meynt, wel-
ches ihm viel hoͤher und wichtiger duͤnkt, als ſein
irdiſches Daſeyn, ſo wird die Liebe zu dieſem, der
Begierde nach jenem vorzuͤglicherm Gute, wei-
chen muͤſſen.
Dulce et decorum eſt pro patria mori.
Suͤß und edel iſt der Tod fuͤrs Vaterland: ſo
denkt der tapfre Held, und giebt, ſeines Namens
Unſterblichkeit wegen, gern ſein Leben dahin.
Die indianiſchen Weiber halten es fuͤr eine
ſo große Ehre, als die vorzuͤglichſt geliebteſten
Gattinnen, mit des Gatten Leichnam auf dem
Holzſtoß zu verbrennen, daß ſie nach des Man-
nes Tode gerichtlich daruͤber ſtreiten, welche von
dem Mann am meiſten geliebt ſey, und daß die-
jenige, welcher der Vorzug der Liebe zuerkannt
wird,
*) Klopſtocks Meſſiade. 7. Geſang.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/36>, abgerufen am 21.11.2024.
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