Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite


sey er von dem väterlichen Gefühle gerührt wor-
den, und habe nicht Stärke genug gehabt, ihm
die Knochen zu zerbrechen, um das Mark aus
denselben zu saugen.

So thierische Handlungen wirkt indeß mehr
die unerträgliche thierische Empfindung des Hun-
gers
, als die Liebe zum Leben, oder, um deut-
licher zu seyn, die Liebe zum Leben allein, ohne
diese Qual der auf die Erhaltung des Körpers
zielenden Triebe, würde nicht zur Menschenfres-
serey verleiten.

Doch giebt es auch Menschen, in welchen
die Liebe zum Leben für sich sehr kleinlich, sehr
niedrig, sehr schändlich ist. Die, welche niemals
an ihre höhere Bestimmung gedachten, vor einer Zu-
kunft, wo über ihr Leben gerichtet wird, zu zit-
tern haben; keine Güter kennen, als die auf der
Erde genossen werden müssen, und nichts in die
Ewigkeit mitgeben; die beben vor dem Ausgang
aus dem Leben, und könnten selbst Laster begehen,
um sich vor der Sense des Todes zu schützen.
Wie Mancher, der über Gott und Ewigkeit
spottete, weil seinem Gewissen diese Gedanken
schrecklich waren, hat auf dem Krankenbette ge-
zagt und gezittert!

Wie Mancher, der weiter kein Gut auf
Erden schätzt, als seinen Mammon, möchte sich
in die Tiefe der Erde verbergen, wenn der Name

Tod
X 3


ſey er von dem vaͤterlichen Gefuͤhle geruͤhrt wor-
den, und habe nicht Staͤrke genug gehabt, ihm
die Knochen zu zerbrechen, um das Mark aus
denſelben zu ſaugen.

So thieriſche Handlungen wirkt indeß mehr
die unertraͤgliche thieriſche Empfindung des Hun-
gers
, als die Liebe zum Leben, oder, um deut-
licher zu ſeyn, die Liebe zum Leben allein, ohne
dieſe Qual der auf die Erhaltung des Koͤrpers
zielenden Triebe, wuͤrde nicht zur Menſchenfreſ-
ſerey verleiten.

Doch giebt es auch Menſchen, in welchen
die Liebe zum Leben fuͤr ſich ſehr kleinlich, ſehr
niedrig, ſehr ſchaͤndlich iſt. Die, welche niemals
an ihre hoͤhere Beſtimmung gedachten, vor einer Zu-
kunft, wo uͤber ihr Leben gerichtet wird, zu zit-
tern haben; keine Guͤter kennen, als die auf der
Erde genoſſen werden muͤſſen, und nichts in die
Ewigkeit mitgeben; die beben vor dem Ausgang
aus dem Leben, und koͤnnten ſelbſt Laſter begehen,
um ſich vor der Senſe des Todes zu ſchuͤtzen.
Wie Mancher, der uͤber Gott und Ewigkeit
ſpottete, weil ſeinem Gewiſſen dieſe Gedanken
ſchrecklich waren, hat auf dem Krankenbette ge-
zagt und gezittert!

Wie Mancher, der weiter kein Gut auf
Erden ſchaͤtzt, als ſeinen Mammon, moͤchte ſich
in die Tiefe der Erde verbergen, wenn der Name

Tod
X 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0041" n="325"/><lb/>
&#x017F;ey er von dem va&#x0364;terlichen Gefu&#x0364;hle geru&#x0364;hrt wor-<lb/>
den, und habe nicht Sta&#x0364;rke genug gehabt, ihm<lb/>
die Knochen zu zerbrechen, um das Mark aus<lb/>
den&#x017F;elben zu &#x017F;augen.</p><lb/>
        <p>So thieri&#x017F;che Handlungen wirkt indeß mehr<lb/>
die unertra&#x0364;gliche thieri&#x017F;che Empfindung des <hi rendition="#b">Hun-<lb/>
gers</hi>, als die Liebe zum Leben, oder, um deut-<lb/>
licher zu &#x017F;eyn, die Liebe zum Leben allein, ohne<lb/>
die&#x017F;e Qual der auf die Erhaltung des Ko&#x0364;rpers<lb/>
zielenden Triebe, wu&#x0364;rde nicht zur Men&#x017F;chenfre&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erey verleiten.</p><lb/>
        <p>Doch giebt es auch Men&#x017F;chen, in welchen<lb/>
die Liebe zum Leben fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;ehr kleinlich, &#x017F;ehr<lb/>
niedrig, &#x017F;ehr &#x017F;cha&#x0364;ndlich i&#x017F;t. Die, welche niemals<lb/>
an ihre ho&#x0364;here Be&#x017F;timmung gedachten, vor einer Zu-<lb/>
kunft, wo u&#x0364;ber ihr Leben gerichtet wird, zu zit-<lb/>
tern haben; keine Gu&#x0364;ter kennen, als die auf der<lb/>
Erde geno&#x017F;&#x017F;en werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und nichts in die<lb/>
Ewigkeit mitgeben; die beben vor dem Ausgang<lb/>
aus dem Leben, und ko&#x0364;nnten &#x017F;elb&#x017F;t La&#x017F;ter begehen,<lb/>
um &#x017F;ich vor der Sen&#x017F;e des Todes zu &#x017F;chu&#x0364;tzen.<lb/>
Wie Mancher, der u&#x0364;ber Gott und Ewigkeit<lb/>
&#x017F;pottete, weil &#x017F;einem Gewi&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;e Gedanken<lb/>
&#x017F;chrecklich waren, hat auf dem Krankenbette ge-<lb/>
zagt und gezittert!</p><lb/>
        <p>Wie Mancher, der weiter kein Gut auf<lb/>
Erden &#x017F;cha&#x0364;tzt, als &#x017F;einen Mammon, mo&#x0364;chte &#x017F;ich<lb/>
in die Tiefe der Erde verbergen, wenn der Name<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Tod</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0041] ſey er von dem vaͤterlichen Gefuͤhle geruͤhrt wor- den, und habe nicht Staͤrke genug gehabt, ihm die Knochen zu zerbrechen, um das Mark aus denſelben zu ſaugen. So thieriſche Handlungen wirkt indeß mehr die unertraͤgliche thieriſche Empfindung des Hun- gers, als die Liebe zum Leben, oder, um deut- licher zu ſeyn, die Liebe zum Leben allein, ohne dieſe Qual der auf die Erhaltung des Koͤrpers zielenden Triebe, wuͤrde nicht zur Menſchenfreſ- ſerey verleiten. Doch giebt es auch Menſchen, in welchen die Liebe zum Leben fuͤr ſich ſehr kleinlich, ſehr niedrig, ſehr ſchaͤndlich iſt. Die, welche niemals an ihre hoͤhere Beſtimmung gedachten, vor einer Zu- kunft, wo uͤber ihr Leben gerichtet wird, zu zit- tern haben; keine Guͤter kennen, als die auf der Erde genoſſen werden muͤſſen, und nichts in die Ewigkeit mitgeben; die beben vor dem Ausgang aus dem Leben, und koͤnnten ſelbſt Laſter begehen, um ſich vor der Senſe des Todes zu ſchuͤtzen. Wie Mancher, der uͤber Gott und Ewigkeit ſpottete, weil ſeinem Gewiſſen dieſe Gedanken ſchrecklich waren, hat auf dem Krankenbette ge- zagt und gezittert! Wie Mancher, der weiter kein Gut auf Erden ſchaͤtzt, als ſeinen Mammon, moͤchte ſich in die Tiefe der Erde verbergen, wenn der Name Tod X 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/41
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/41>, abgerufen am 21.11.2024.