Wohl dem, deß Vorbild gut ist! wehe dem, bey welchem das Gegentheil statt findet! --
Außer diesem in der Natur der Vorstellungen und der Macht der Gewohnheit liegenden Quelle des Nachahmungstriebes, kommen noch andre in Betracht, aus welchen derselbe Leben und Nah- rung zieht.
Es ist ein unmittelbar aus der Selbstliebe zu erklärender Wunsch eines jeden Menschen, so viel Vollkommenheiten und Vorzüge in sich zu ver- einigen, als möglich.
Wenn man daher an Andern etwas wahr- nimmt, welches man für vollkommen, schön und gut hält, so wird man sich bemühen, dieses nach- zuahmen, und es um so leichter sich zu eigen ma- chen, da unsre Meynung es für Vollkommenheit, mithin für etwas Wichtiges hält, und unsre Auf- merksamkeit also sich mit Ernst darauf richtet.
Man kann daher aus dem, was ein Mensch nachahmt, einen ziemlich sichern Schluß auf das, was in ihm selbst ist, auf seine Denkungsart und seinen Charakter machen. Freylich mit Vor- sicht und Urtheil. Denn es ist, wie schon aus dem Vorigen erhellt, nicht immer nöthig, daß man etwas für Vollkommenheit halte, um Nei- gung zur Nachahmung desselben zu bekommen. Es geht oft sogar das in einen über, was man für
sehr
Wohl dem, deß Vorbild gut iſt! wehe dem, bey welchem das Gegentheil ſtatt findet! —
Außer dieſem in der Natur der Vorſtellungen und der Macht der Gewohnheit liegenden Quelle des Nachahmungstriebes, kommen noch andre in Betracht, aus welchen derſelbe Leben und Nah- rung zieht.
Es iſt ein unmittelbar aus der Selbſtliebe zu erklaͤrender Wunſch eines jeden Menſchen, ſo viel Vollkommenheiten und Vorzuͤge in ſich zu ver- einigen, als moͤglich.
Wenn man daher an Andern etwas wahr- nimmt, welches man fuͤr vollkommen, ſchoͤn und gut haͤlt, ſo wird man ſich bemuͤhen, dieſes nach- zuahmen, und es um ſo leichter ſich zu eigen ma- chen, da unſre Meynung es fuͤr Vollkommenheit, mithin fuͤr etwas Wichtiges haͤlt, und unſre Auf- merkſamkeit alſo ſich mit Ernſt darauf richtet.
Man kann daher aus dem, was ein Menſch nachahmt, einen ziemlich ſichern Schluß auf das, was in ihm ſelbſt iſt, auf ſeine Denkungsart und ſeinen Charakter machen. Freylich mit Vor- ſicht und Urtheil. Denn es iſt, wie ſchon aus dem Vorigen erhellt, nicht immer noͤthig, daß man etwas fuͤr Vollkommenheit halte, um Nei- gung zur Nachahmung deſſelben zu bekommen. Es geht oft ſogar das in einen uͤber, was man fuͤr
ſehr
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[354/0070]
Wohl dem, deß Vorbild gut iſt! wehe dem,
bey welchem das Gegentheil ſtatt findet! —
Außer dieſem in der Natur der Vorſtellungen
und der Macht der Gewohnheit liegenden Quelle
des Nachahmungstriebes, kommen noch andre in
Betracht, aus welchen derſelbe Leben und Nah-
rung zieht.
Es iſt ein unmittelbar aus der Selbſtliebe
zu erklaͤrender Wunſch eines jeden Menſchen, ſo
viel Vollkommenheiten und Vorzuͤge in ſich zu ver-
einigen, als moͤglich.
Wenn man daher an Andern etwas wahr-
nimmt, welches man fuͤr vollkommen, ſchoͤn und
gut haͤlt, ſo wird man ſich bemuͤhen, dieſes nach-
zuahmen, und es um ſo leichter ſich zu eigen ma-
chen, da unſre Meynung es fuͤr Vollkommenheit,
mithin fuͤr etwas Wichtiges haͤlt, und unſre Auf-
merkſamkeit alſo ſich mit Ernſt darauf richtet.
Man kann daher aus dem, was ein Menſch
nachahmt, einen ziemlich ſichern Schluß auf das,
was in ihm ſelbſt iſt, auf ſeine Denkungsart
und ſeinen Charakter machen. Freylich mit Vor-
ſicht und Urtheil. Denn es iſt, wie ſchon aus
dem Vorigen erhellt, nicht immer noͤthig, daß
man etwas fuͤr Vollkommenheit halte, um Nei-
gung zur Nachahmung deſſelben zu bekommen.
Es geht oft ſogar das in einen uͤber, was man fuͤr
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/70>, abgerufen am 09.11.2024.
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