Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.quo facilius decorum -- retineatur. Sic turam Die vornehmste Pflicht ist, nichts zu thun,
was der allgemeinen Natur des Menschen wider- spricht; die zweyte, unsrer besondren Natur zu fol- gen. Dies Letztere geht so weit, daß selbst, wenn wir an Andern etwas an sich Vollkommneres und Edleres bemerken, wir doch unsre Bestre- bungen nicht sogleich darauf richten, sondern sie immer nach dem Maaßstabe unsrer Natur einschränken müssen. Denn es hilft zu nichts, seiner Natur Gewalt anzuthun, und nach etwas zu streben, was man doch nicht erlangen kann -- weil nach der Erfahrung nichts gut steht, was nicht natürlich ist, was einen Zwang oder Affektation verräth. Wenn irgend etwas anständig ist, so ist es gewiß am meisten Gleichheit in unsrer ganzen Aufführung und Uebereinstimmung aller einzelnen Handlungen miteinander. Diese ist aber unmög- lich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nach- ahmen, unsre eignen verlassen. -- Diese Betrachtungen führen uns darauf, daß wir das Eigne unsers Charakters erforschen, dieses ausbilden und vor Ausschweifungen bewahren, nicht etwas Fremdes affektiren müssen, um zu versuchen, ob wir uns dadurch ein größeres Ansehen geben kön- nen. Diese Erwartung schlägt gewiß fehl. Denn das steht einem jeden am besten, was ihm am meisten eigenthümlich ist. Es ist also eine allge- meine quo facilius decorum — retineatur. Sic turam Die vornehmſte Pflicht iſt, nichts zu thun,
was der allgemeinen Natur des Menſchen wider- ſpricht; die zweyte, unſrer beſondren Natur zu fol- gen. Dies Letztere geht ſo weit, daß ſelbſt, wenn wir an Andern etwas an ſich Vollkommneres und Edleres bemerken, wir doch unſre Beſtre- bungen nicht ſogleich darauf richten, ſondern ſie immer nach dem Maaßſtabe unſrer Natur einſchraͤnken muͤſſen. Denn es hilft zu nichts, ſeiner Natur Gewalt anzuthun, und nach etwas zu ſtreben, was man doch nicht erlangen kann — weil nach der Erfahrung nichts gut ſteht, was nicht natuͤrlich iſt, was einen Zwang oder Affektation verraͤth. Wenn irgend etwas anſtaͤndig iſt, ſo iſt es gewiß am meiſten Gleichheit in unſrer ganzen Auffuͤhrung und Uebereinſtimmung aller einzelnen Handlungen miteinander. Dieſe iſt aber unmoͤg- lich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nach- ahmen, unſre eignen verlaſſen. — Dieſe Betrachtungen fuͤhren uns darauf, daß wir das Eigne unſers Charakters erforſchen, dieſes ausbilden und vor Ausſchweifungen bewahren, nicht etwas Fremdes affektiren muͤſſen, um zu verſuchen, ob wir uns dadurch ein groͤßeres Anſehen geben koͤn- nen. Dieſe Erwartung ſchlaͤgt gewiß fehl. Denn das ſteht einem jeden am beſten, was ihm am meiſten eigenthuͤmlich iſt. Es iſt alſo eine allge- meine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p> <pb facs="#f0076" n="360"/> <hi rendition="#aq">quo facilius decorum — retineatur. Sic<lb/> enim eſt faciendum, ut contra univerſam na-</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">turam</hi> </fw><lb/> <note next="#seg2pn_5_3" xml:id="seg2pn_5_2" prev="#seg2pn_5_1" place="foot" n="*)"> <p>Die vornehmſte Pflicht iſt, nichts zu thun,<lb/> was der allgemeinen Natur des Menſchen wider-<lb/> ſpricht; die zweyte, unſrer beſondren Natur zu fol-<lb/> gen. Dies Letztere geht ſo weit, <hi rendition="#fr">daß ſelbſt, wenn<lb/> wir an Andern etwas an ſich Vollkommneres<lb/> und Edleres bemerken, wir doch unſre Beſtre-<lb/> bungen nicht ſogleich darauf richten, ſondern<lb/> ſie immer nach dem Maaßſtabe unſrer Natur<lb/> einſchraͤnken muͤſſen.</hi> Denn es hilft zu nichts,<lb/> ſeiner Natur Gewalt anzuthun, und nach etwas<lb/> zu ſtreben, was man doch nicht erlangen kann —<lb/> weil nach der Erfahrung nichts gut ſteht, was nicht<lb/> natuͤrlich iſt, was einen Zwang oder Affektation<lb/> verraͤth. Wenn irgend etwas anſtaͤndig iſt, ſo iſt<lb/> es gewiß am meiſten Gleichheit in unſrer ganzen<lb/> Auffuͤhrung und Uebereinſtimmung aller einzelnen<lb/> Handlungen miteinander. Dieſe iſt aber unmoͤg-<lb/> lich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nach-<lb/> ahmen, unſre eignen verlaſſen. —</p><lb/> <p>Dieſe Betrachtungen fuͤhren uns darauf, daß<lb/> wir das Eigne unſers Charakters erforſchen, dieſes<lb/> ausbilden und vor Ausſchweifungen bewahren, nicht<lb/> etwas Fremdes affektiren muͤſſen, um zu verſuchen,<lb/> ob wir uns dadurch ein groͤßeres Anſehen geben koͤn-<lb/> nen. Dieſe Erwartung ſchlaͤgt gewiß fehl. <hi rendition="#fr">Denn<lb/> das ſteht einem jeden am beſten, was ihm am<lb/> meiſten eigenthuͤmlich iſt.</hi> Es iſt alſo eine allge-</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">meine</fw> </note><lb/> </p> </div> </body> </text> </TEI> [360/0076]
quo facilius decorum — retineatur. Sic
enim eſt faciendum, ut contra univerſam na-
turam
*)
*) Die vornehmſte Pflicht iſt, nichts zu thun,
was der allgemeinen Natur des Menſchen wider-
ſpricht; die zweyte, unſrer beſondren Natur zu fol-
gen. Dies Letztere geht ſo weit, daß ſelbſt, wenn
wir an Andern etwas an ſich Vollkommneres
und Edleres bemerken, wir doch unſre Beſtre-
bungen nicht ſogleich darauf richten, ſondern
ſie immer nach dem Maaßſtabe unſrer Natur
einſchraͤnken muͤſſen. Denn es hilft zu nichts,
ſeiner Natur Gewalt anzuthun, und nach etwas
zu ſtreben, was man doch nicht erlangen kann —
weil nach der Erfahrung nichts gut ſteht, was nicht
natuͤrlich iſt, was einen Zwang oder Affektation
verraͤth. Wenn irgend etwas anſtaͤndig iſt, ſo iſt
es gewiß am meiſten Gleichheit in unſrer ganzen
Auffuͤhrung und Uebereinſtimmung aller einzelnen
Handlungen miteinander. Dieſe iſt aber unmoͤg-
lich zu erhalten, wenn wir fremde Charaktere nach-
ahmen, unſre eignen verlaſſen. —
Dieſe Betrachtungen fuͤhren uns darauf, daß
wir das Eigne unſers Charakters erforſchen, dieſes
ausbilden und vor Ausſchweifungen bewahren, nicht
etwas Fremdes affektiren muͤſſen, um zu verſuchen,
ob wir uns dadurch ein groͤßeres Anſehen geben koͤn-
nen. Dieſe Erwartung ſchlaͤgt gewiß fehl. Denn
das ſteht einem jeden am beſten, was ihm am
meiſten eigenthuͤmlich iſt. Es iſt alſo eine allge-
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