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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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eins. Am liebsten hört' ich ihn singen: Jch
bin ein Gast auf Erden, von P. Gerhardt,
und es gehört auch jetzt noch zu meinen
Lieblingsliedern. Sprüche aus der Bibel
und Verse aus geistlichen Liedern wußte ich
in Menge, erklärte mir aber manche höchst
wunderlich, oft bloß, weil ich sie nicht mit
dem rechten Ton zu lesen verstanden hatte,
durch welche Tonverfehlung mancher Predi-
ger das klarste Evangelium seiner Gemeine
unverständlich, wenigstens nicht eindrücklich
genug macht. Jndessen freut es mich, sehr
viele davon im Gedächtniß behalten zu ha-
ben, weil ich sonst nie an eine verständige
Erklärung hätte denken, und in mancher
langweiligen Predigt mich nicht mit ihnen
hätte beschäftigen und dadurch entlangweilen
können. Auch verdank ich der mütterlichen
Singliebhaberey manche Erhöhung meines
Vergnügens bey frühen Morgenspatziergän-
gen, auf denen ich Lieder nach schönen Kir-
chenmelodien improvisirte, die zum Anblick
der schönen Natur und zum Gefühl meiner
jedesmaligen Lage trefflich paßten, aber nie

mich dann oben aufsetzte, dadurch abgewöhnte,
daß er mich, wenn ich herabgestiegen war, mit
eiskaltem Wasser begoß.

eins. Am liebſten hoͤrt’ ich ihn ſingen: Jch
bin ein Gaſt auf Erden, von P. Gerhardt,
und es gehoͤrt auch jetzt noch zu meinen
Lieblingsliedern. Spruͤche aus der Bibel
und Verſe aus geiſtlichen Liedern wußte ich
in Menge, erklaͤrte mir aber manche hoͤchſt
wunderlich, oft bloß, weil ich ſie nicht mit
dem rechten Ton zu leſen verſtanden hatte,
durch welche Tonverfehlung mancher Predi-
ger das klarſte Evangelium ſeiner Gemeine
unverſtaͤndlich, wenigſtens nicht eindruͤcklich
genug macht. Jndeſſen freut es mich, ſehr
viele davon im Gedaͤchtniß behalten zu ha-
ben, weil ich ſonſt nie an eine verſtaͤndige
Erklaͤrung haͤtte denken, und in mancher
langweiligen Predigt mich nicht mit ihnen
haͤtte beſchaͤftigen und dadurch entlangweilen
koͤnnen. Auch verdank ich der muͤtterlichen
Singliebhaberey manche Erhoͤhung meines
Vergnuͤgens bey fruͤhen Morgenſpatziergaͤn-
gen, auf denen ich Lieder nach ſchoͤnen Kir-
chenmelodien improviſirte, die zum Anblick
der ſchoͤnen Natur und zum Gefuͤhl meiner
jedesmaligen Lage trefflich paßten, aber nie

mich dann oben aufſetzte, dadurch abgewoͤhnte,
daß er mich, wenn ich herabgeſtiegen war, mit
eiskaltem Waſſer begoß.
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[26/0043] eins. Am liebſten hoͤrt’ ich ihn ſingen: Jch bin ein Gaſt auf Erden, von P. Gerhardt, und es gehoͤrt auch jetzt noch zu meinen Lieblingsliedern. Spruͤche aus der Bibel und Verſe aus geiſtlichen Liedern wußte ich in Menge, erklaͤrte mir aber manche hoͤchſt wunderlich, oft bloß, weil ich ſie nicht mit dem rechten Ton zu leſen verſtanden hatte, durch welche Tonverfehlung mancher Predi- ger das klarſte Evangelium ſeiner Gemeine unverſtaͤndlich, wenigſtens nicht eindruͤcklich genug macht. Jndeſſen freut es mich, ſehr viele davon im Gedaͤchtniß behalten zu ha- ben, weil ich ſonſt nie an eine verſtaͤndige Erklaͤrung haͤtte denken, und in mancher langweiligen Predigt mich nicht mit ihnen haͤtte beſchaͤftigen und dadurch entlangweilen koͤnnen. Auch verdank ich der muͤtterlichen Singliebhaberey manche Erhoͤhung meines Vergnuͤgens bey fruͤhen Morgenſpatziergaͤn- gen, auf denen ich Lieder nach ſchoͤnen Kir- chenmelodien improviſirte, die zum Anblick der ſchoͤnen Natur und zum Gefuͤhl meiner jedesmaligen Lage trefflich paßten, aber nie *) *) mich dann oben aufſetzte, dadurch abgewoͤhnte, daß er mich, wenn ich herabgeſtiegen war, mit eiskaltem Waſſer begoß.

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/43>, abgerufen am 06.05.2024.