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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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dem Hungertode sichert, und der die
Hoffnung auf möglichen Entsatz von der
Wasserseite den Vertheidigungs-Muth stärkt.

Jn meinen Beschäftigungen und spar-
samen Zeitvertreiben hat sich nichts geändert,
weil ich es für Unrecht halte, sich vom To-
de müssig überraschen zu lassen.

Vom längst verstorbenen berühmten Arzt
Selle hört' ich neulich erzählen, er habe
seinen Tod berechnet gehabt, und in den
letzten Lebensstunden sich einen Spiegel vor-
halten lassen, um zu beobachten, wie er
stürbe; ist es aber nicht beynah kindische
Neugierde und eine vergebne Mühe, Beobach-
tungen anzustellen, deren Resultate man
weder für sich noch für andre weiter nutzen
kann? Hätte Selle seine Spiegelbemer-
kungen zum besten seiner Kunst und Wissen-
schaft aufzeichnen können, so würd ich sie
ihm nicht verdacht haben.

Sollte nicht das stille Hingeben in den
Tod das Schicklichste für die letzten Lebens-
stunden seyn? Montaigne war andrer
Meinung, und ich war es auch; allein kommt
Zeit, kommt Rath, und dieser letzte, glaub
ich, sey der beste.

Jn den letzten Wochen des abgewichnen

dem Hungertode ſichert, und der die
Hoffnung auf moͤglichen Entſatz von der
Waſſerſeite den Vertheidigungs-Muth ſtaͤrkt.

Jn meinen Beſchaͤftigungen und ſpar-
ſamen Zeitvertreiben hat ſich nichts geaͤndert,
weil ich es fuͤr Unrecht halte, ſich vom To-
de muͤſſig uͤberraſchen zu laſſen.

Vom laͤngſt verſtorbenen beruͤhmten Arzt
Selle hoͤrt’ ich neulich erzaͤhlen, er habe
ſeinen Tod berechnet gehabt, und in den
letzten Lebensſtunden ſich einen Spiegel vor-
halten laſſen, um zu beobachten, wie er
ſtuͤrbe; iſt es aber nicht beynah kindiſche
Neugierde und eine vergebne Muͤhe, Beobach-
tungen anzuſtellen, deren Reſultate man
weder fuͤr ſich noch fuͤr andre weiter nutzen
kann? Haͤtte Selle ſeine Spiegelbemer-
kungen zum beſten ſeiner Kunſt und Wiſſen-
ſchaft aufzeichnen koͤnnen, ſo wuͤrd ich ſie
ihm nicht verdacht haben.

Sollte nicht das ſtille Hingeben in den
Tod das Schicklichſte fuͤr die letzten Lebens-
ſtunden ſeyn? Montaigne war andrer
Meinung, und ich war es auch; allein kommt
Zeit, kommt Rath, und dieſer letzte, glaub
ich, ſey der beſte.

Jn den letzten Wochen des abgewichnen

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[441/0458] dem Hungertode ſichert, und der die Hoffnung auf moͤglichen Entſatz von der Waſſerſeite den Vertheidigungs-Muth ſtaͤrkt. Jn meinen Beſchaͤftigungen und ſpar- ſamen Zeitvertreiben hat ſich nichts geaͤndert, weil ich es fuͤr Unrecht halte, ſich vom To- de muͤſſig uͤberraſchen zu laſſen. Vom laͤngſt verſtorbenen beruͤhmten Arzt Selle hoͤrt’ ich neulich erzaͤhlen, er habe ſeinen Tod berechnet gehabt, und in den letzten Lebensſtunden ſich einen Spiegel vor- halten laſſen, um zu beobachten, wie er ſtuͤrbe; iſt es aber nicht beynah kindiſche Neugierde und eine vergebne Muͤhe, Beobach- tungen anzuſtellen, deren Reſultate man weder fuͤr ſich noch fuͤr andre weiter nutzen kann? Haͤtte Selle ſeine Spiegelbemer- kungen zum beſten ſeiner Kunſt und Wiſſen- ſchaft aufzeichnen koͤnnen, ſo wuͤrd ich ſie ihm nicht verdacht haben. Sollte nicht das ſtille Hingeben in den Tod das Schicklichſte fuͤr die letzten Lebens- ſtunden ſeyn? Montaigne war andrer Meinung, und ich war es auch; allein kommt Zeit, kommt Rath, und dieſer letzte, glaub ich, ſey der beſte. Jn den letzten Wochen des abgewichnen

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/458>, abgerufen am 22.11.2024.