zu tief von sich selbst und seinem Gegenstande erfüllt -- zum Ausscheiden und Ordnen ist er noch nicht kalt und ruhig genug, erst hernach unter Rück- erinnrung wird er fähig, sein Werk nach Zahl, Maas und Gewicht aufzubauen. Bey Empfindungen und Eindrücken müssen wir das blos Physische von dem höhern Reitz unterscheiden, der dem natürlichen Be- dürfniß die Einbildung und die Moralität giebt (ad calorem robustum spirituum facit Venus saepe exci- tata, rare peracta. Baco hist. vitae et mortis § 67); öfters noch süßer ist die Trinkschaale, die uns die Rückerinnrung darreicht, als der Genuß der Gegen- wart. -- Jn wiefern zwischen dem Greise und Jüng- linge allen Unterschied nur das Alter macht, so würde von ihnen gesagt werden können, was Aristoteles un- ter Anspielung auf seine besten Jünger vom rohdischen und lesbischen Wein sagte: sie sind beyde sehr gut, der erstre aber ist stärker, hingegen der letztre milder. -- Nicht so fast an Kraft gebricht es dem Greise, als an Kraftgefühl, nicht so fast an Geist als an Muth, er traut bey kälterm, schwächerm Körper sich weniger zu. Dieses Mißtrauen aber, das er leicht noch be- siegen könnte, nähren bey ihm von allen Seiten eine Menge Menschen, die ihn entweder gern von sich abhängig machen, oder ganz wegstoßen möchten. -- Guter Greis, stärke denn vielmehr das Zutrauen, als das Mißtrauen, entwöhne dich ja nicht vom Selbst- handeln und Selbstdenken -- wird dir auch das Fort- chreiten, mit dem Kopf wie mit den Füßen, im Alter beschwerlicher, gieb es darum nicht auf, setze lieber mit eigner Beschwerde, lieber etwas langsamer, täg- lich deinen Gang fort, sowohl physisch als geistig, sonst verlernst Du unvermerkt das Gehen. Es ist
zu tief von ſich ſelbſt und ſeinem Gegenſtande erfuͤllt — zum Ausſcheiden und Ordnen iſt er noch nicht kalt und ruhig genug, erſt hernach unter Ruͤck- erinnrung wird er faͤhig, ſein Werk nach Zahl, Maas und Gewicht aufzubauen. Bey Empfindungen und Eindruͤcken muͤſſen wir das blos Phyſiſche von dem hoͤhern Reitz unterſcheiden, der dem natuͤrlichen Be- duͤrfniß die Einbildung und die Moralitaͤt giebt (ad calorem robuſtum ſpirituum facit Venus ſaepe exci- tata, rare peracta. Baco hiſt. vitae et mortis § 67); oͤfters noch ſuͤßer iſt die Trinkſchaale, die uns die Ruͤckerinnrung darreicht, als der Genuß der Gegen- wart. — Jn wiefern zwiſchen dem Greiſe und Juͤng- linge allen Unterſchied nur das Alter macht, ſo wuͤrde von ihnen geſagt werden koͤnnen, was Ariſtoteles un- ter Anſpielung auf ſeine beſten Juͤnger vom rohdiſchen und lesbiſchen Wein ſagte: ſie ſind beyde ſehr gut, der erſtre aber iſt ſtaͤrker, hingegen der letztre milder. — Nicht ſo faſt an Kraft gebricht es dem Greiſe, als an Kraftgefuͤhl, nicht ſo faſt an Geiſt als an Muth, er traut bey kaͤlterm, ſchwaͤcherm Koͤrper ſich weniger zu. Dieſes Mißtrauen aber, das er leicht noch be- ſiegen koͤnnte, naͤhren bey ihm von allen Seiten eine Menge Menſchen, die ihn entweder gern von ſich abhaͤngig machen, oder ganz wegſtoßen moͤchten. — Guter Greis, ſtaͤrke denn vielmehr das Zutrauen, als das Mißtrauen, entwoͤhne dich ja nicht vom Selbſt- handeln und Selbſtdenken — wird dir auch das Fort- chreiten, mit dem Kopf wie mit den Fuͤßen, im Alter beſchwerlicher, gieb es darum nicht auf, ſetze lieber mit eigner Beſchwerde, lieber etwas langſamer, taͤg- lich deinen Gang fort, ſowohl phyſiſch als geiſtig, ſonſt verlernſt Du unvermerkt das Gehen. Es iſt
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[0547]
zu tief von ſich ſelbſt und ſeinem Gegenſtande
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nicht kalt und ruhig genug, erſt hernach unter Ruͤck-
erinnrung wird er faͤhig, ſein Werk nach Zahl, Maas
und Gewicht aufzubauen. Bey Empfindungen und
Eindruͤcken muͤſſen wir das blos Phyſiſche von dem
hoͤhern Reitz unterſcheiden, der dem natuͤrlichen Be-
duͤrfniß die Einbildung und die Moralitaͤt giebt (ad
calorem robuſtum ſpirituum facit Venus ſaepe exci-
tata, rare peracta. Baco hiſt. vitae et mortis § 67);
oͤfters noch ſuͤßer iſt die Trinkſchaale, die uns die
Ruͤckerinnrung darreicht, als der Genuß der Gegen-
wart. — Jn wiefern zwiſchen dem Greiſe und Juͤng-
linge allen Unterſchied nur das Alter macht, ſo wuͤrde
von ihnen geſagt werden koͤnnen, was Ariſtoteles un-
ter Anſpielung auf ſeine beſten Juͤnger vom rohdiſchen
und lesbiſchen Wein ſagte: ſie ſind beyde ſehr gut, der
erſtre aber iſt ſtaͤrker, hingegen der letztre milder. —
Nicht ſo faſt an Kraft gebricht es dem Greiſe, als an
Kraftgefuͤhl, nicht ſo faſt an Geiſt als an Muth, er
traut bey kaͤlterm, ſchwaͤcherm Koͤrper ſich weniger
zu. Dieſes Mißtrauen aber, das er leicht noch be-
ſiegen koͤnnte, naͤhren bey ihm von allen Seiten eine
Menge Menſchen, die ihn entweder gern von ſich
abhaͤngig machen, oder ganz wegſtoßen moͤchten. —
Guter Greis, ſtaͤrke denn vielmehr das Zutrauen, als
das Mißtrauen, entwoͤhne dich ja nicht vom Selbſt-
handeln und Selbſtdenken — wird dir auch das Fort-
chreiten, mit dem Kopf wie mit den Fuͤßen, im Alter
beſchwerlicher, gieb es darum nicht auf, ſetze lieber
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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/547>, abgerufen am 22.11.2024.
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