Fall sey, sehen wir bey Masinissa etc., bey der Gei- stesfrucht vermag doch wohl ohnehin der Geist mehr als der Körper, der Verstand mehr als die Sinne. Wenn auch im spätern Alter die von Blut und Ner- vensaft mehr oder weniger abhängenden Fähigkeiten, Z. B. Erinnerungs- und Einbildungskraft, zugleich mit dem Körper geschwächt werden, so gewinnen ge- rade, unter solcher Schwächung der untern Seelen- kräfte, die obern um so viel freyern Spielraum. Je höher der Geist sich über den Dunstkreis der Sinne erhebt, in desto reinerm Himmel bewegt sich sein Licht. Ob aber auch wirklich Verstand und Jmagination, ob die Wirksamkeit von jenem mit der Wirksamkeit von dieser, geradezu und durchaus unverträglich sey? -- Verräth Homer nicht zugleich hohen Verstand und un- erschöpfliche Jmagination? -- -- auch hier, denk ich, liegt weniger an Reichthum, als am klugen Haus- halten. Bey sorgsamer Benutzung auch eines mäßigen Kapitals, und bey immer neuer Umsetzung, trägt es auch wuchernde Frucht, nur bedarfs
1) täglicher Beobachtung, Uebung und Anwendung;
2) öftrer Erinnrung an die gesammelten Beobach- tungen;
3) Auswahl, Anordnung derselben, immer neuer Vermählung und Mischung. Warum sollte der Greis
nicht eben so geschickt dazu seyn, als der jüngere Mann? Ob aber auch wohl zu warmer anschaulicher Darstel- lung von Empfindungen und Leidenschaften, die der Greis nicht mehr, oder doch nur in einzelnen Augen- blicken, auch in schwächerm Grad, in sich nährt? Warum nicht? Keineswegs am wärmsten und anfchau- lichsten schildert eine Leidenschaft derjenige, der von ihr gegenwärtig und ganz ergriffen ist. Ein solcher ist
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Fall ſey, ſehen wir bey Maſiniſſa ꝛc., bey der Gei- ſtesfrucht vermag doch wohl ohnehin der Geiſt mehr als der Koͤrper, der Verſtand mehr als die Sinne. Wenn auch im ſpaͤtern Alter die von Blut und Ner- venſaft mehr oder weniger abhaͤngenden Faͤhigkeiten, Z. B. Erinnerungs- und Einbildungskraft, zugleich mit dem Koͤrper geſchwaͤcht werden, ſo gewinnen ge- rade, unter ſolcher Schwaͤchung der untern Seelen- kraͤfte, die obern um ſo viel freyern Spielraum. Je hoͤher der Geiſt ſich uͤber den Dunſtkreis der Sinne erhebt, in deſto reinerm Himmel bewegt ſich ſein Licht. Ob aber auch wirklich Verſtand und Jmagination, ob die Wirkſamkeit von jenem mit der Wirkſamkeit von dieſer, geradezu und durchaus unvertraͤglich ſey? — Verraͤth Homer nicht zugleich hohen Verſtand und un- erſchoͤpfliche Jmagination? — — auch hier, denk ich, liegt weniger an Reichthum, als am klugen Haus- halten. Bey ſorgſamer Benutzung auch eines maͤßigen Kapitals, und bey immer neuer Umſetzung, traͤgt es auch wuchernde Frucht, nur bedarfs
1) taͤglicher Beobachtung, Uebung und Anwendung;
2) oͤftrer Erinnrung an die geſammelten Beobach- tungen;
3) Auswahl, Anordnung derſelben, immer neuer Vermaͤhlung und Miſchung. Warum ſollte der Greis
nicht eben ſo geſchickt dazu ſeyn, als der juͤngere Mann? Ob aber auch wohl zu warmer anſchaulicher Darſtel- lung von Empfindungen und Leidenſchaften, die der Greis nicht mehr, oder doch nur in einzelnen Augen- blicken, auch in ſchwaͤcherm Grad, in ſich naͤhrt? Warum nicht? Keineswegs am waͤrmſten und anfchau- lichſten ſchildert eine Leidenſchaft derjenige, der von ihr gegenwaͤrtig und ganz ergriffen iſt. Ein ſolcher iſt
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[0546]
Fall ſey, ſehen wir bey Maſiniſſa ꝛc., bey der Gei-
ſtesfrucht vermag doch wohl ohnehin der Geiſt mehr
als der Koͤrper, der Verſtand mehr als die Sinne.
Wenn auch im ſpaͤtern Alter die von Blut und Ner-
venſaft mehr oder weniger abhaͤngenden Faͤhigkeiten,
Z. B. Erinnerungs- und Einbildungskraft, zugleich
mit dem Koͤrper geſchwaͤcht werden, ſo gewinnen ge-
rade, unter ſolcher Schwaͤchung der untern Seelen-
kraͤfte, die obern um ſo viel freyern Spielraum. Je
hoͤher der Geiſt ſich uͤber den Dunſtkreis der Sinne
erhebt, in deſto reinerm Himmel bewegt ſich ſein Licht.
Ob aber auch wirklich Verſtand und Jmagination, ob
die Wirkſamkeit von jenem mit der Wirkſamkeit von
dieſer, geradezu und durchaus unvertraͤglich ſey? —
Verraͤth Homer nicht zugleich hohen Verſtand und un-
erſchoͤpfliche Jmagination? — — auch hier, denk ich,
liegt weniger an Reichthum, als am klugen Haus-
halten. Bey ſorgſamer Benutzung auch eines maͤßigen
Kapitals, und bey immer neuer Umſetzung, traͤgt es
auch wuchernde Frucht, nur bedarfs
1) taͤglicher Beobachtung, Uebung und Anwendung;
2) oͤftrer Erinnrung an die geſammelten Beobach-
tungen;
3) Auswahl, Anordnung derſelben, immer neuer
Vermaͤhlung und Miſchung. Warum ſollte der Greis
nicht eben ſo geſchickt dazu ſeyn, als der juͤngere Mann?
Ob aber auch wohl zu warmer anſchaulicher Darſtel-
lung von Empfindungen und Leidenſchaften, die der
Greis nicht mehr, oder doch nur in einzelnen Augen-
blicken, auch in ſchwaͤcherm Grad, in ſich naͤhrt?
Warum nicht? Keineswegs am waͤrmſten und anfchau-
lichſten ſchildert eine Leidenſchaft derjenige, der von ihr
gegenwaͤrtig und ganz ergriffen iſt. Ein ſolcher iſt
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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/546>, abgerufen am 22.11.2024.
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