Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

In den ersten schriftlichen Denkmälern der Geschichte des Christen-
thums rührt sich schon der Gegensatz des realistischen und idealistischen
Princips im Christenthum. Der Verfasser des Evangeliums Johannis
ist von den Ideen einer höheren Erkenntniß begeistert und nimmt diese
zur Einleitung in seine einfache und stille Erzählung von dem Leben
Christi; die andern erzählen im jüdischen Geist und umgeben seine Ge-
schichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Weissagungen im A. T.
erfunden waren. Sie sind a priori überzeugt, daß diese Geschichten
sich so ereignet haben müssen, da sie im A. T. vom Messias prophezeit
sind, deßwegen setzen sie hinzu: "auf daß erfüllet würde, was geschrieben
steht", und in Beziehung auf sie kann man sagen: Christus sey eine
historische Person, deren Biographie schon vor ihrer Geburt verzeichnet
gewesen.

Es ist wichtig gleich mit diesen ersten Regungen der Gegensätze
im Christenthum zu bemerken, wie das realistische Princip durchaus
das Uebergewicht behauptet und auch in der Folge erhält, welches noth-
wendig war, wenn das Christenthum sich nicht ebenso wie alle andern
ursprünglich orientalischen Religionen in Philosophie auflösen sollte.
Schon zu der Zeit als die ersten Berichte vom Leben Jesu abgefaßt
wurden, bildete sich im Christenthum selbst ein engerer Kreis geistige-
rer Erkenntniß, Gnosis genannt. Es beweist ein richtiges Gefühl,
ein sicheres Bewußtseyn dessen, was sie wollen mußten, in den ersten
Verbreitern des Christenthums, daß sie sich wie einmüthig dem Ein-
dringen philosophischer Systeme widersetzten. Sie entfernten mit offen-
barer Ueberlegung alles, was nicht universalhistorisch, nicht Sache aller
Menschen werden konnte. Wie sich das Christenthum ursprünglich aus
dem Haufen der Elenden und Verachteten seine Anhänger geholt,
und gleichsam in seinem Ursprung schon die demokratische Richtung
hatte, so suchte es auch diese Popularität fortwährend zu erhalten.

Der erste große Schritt zur künftigen Bildung des Christenthums
war der Eifer des Apostels Paulus, der jene Lehre zuerst unter die
Heiden trug. Nur in dem fremden Boden konnte es sich gestalten.
Es war nothwendig, daß die orientalischen Ideen in den occidentalischen

In den erſten ſchriftlichen Denkmälern der Geſchichte des Chriſten-
thums rührt ſich ſchon der Gegenſatz des realiſtiſchen und idealiſtiſchen
Princips im Chriſtenthum. Der Verfaſſer des Evangeliums Johannis
iſt von den Ideen einer höheren Erkenntniß begeiſtert und nimmt dieſe
zur Einleitung in ſeine einfache und ſtille Erzählung von dem Leben
Chriſti; die andern erzählen im jüdiſchen Geiſt und umgeben ſeine Ge-
ſchichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Weiſſagungen im A. T.
erfunden waren. Sie ſind a priori überzeugt, daß dieſe Geſchichten
ſich ſo ereignet haben müſſen, da ſie im A. T. vom Meſſias prophezeit
ſind, deßwegen ſetzen ſie hinzu: „auf daß erfüllet würde, was geſchrieben
ſteht“, und in Beziehung auf ſie kann man ſagen: Chriſtus ſey eine
hiſtoriſche Perſon, deren Biographie ſchon vor ihrer Geburt verzeichnet
geweſen.

Es iſt wichtig gleich mit dieſen erſten Regungen der Gegenſätze
im Chriſtenthum zu bemerken, wie das realiſtiſche Princip durchaus
das Uebergewicht behauptet und auch in der Folge erhält, welches noth-
wendig war, wenn das Chriſtenthum ſich nicht ebenſo wie alle andern
urſprünglich orientaliſchen Religionen in Philoſophie auflöſen ſollte.
Schon zu der Zeit als die erſten Berichte vom Leben Jeſu abgefaßt
wurden, bildete ſich im Chriſtenthum ſelbſt ein engerer Kreis geiſtige-
rer Erkenntniß, Gnoſis genannt. Es beweist ein richtiges Gefühl,
ein ſicheres Bewußtſeyn deſſen, was ſie wollen mußten, in den erſten
Verbreitern des Chriſtenthums, daß ſie ſich wie einmüthig dem Ein-
dringen philoſophiſcher Syſteme widerſetzten. Sie entfernten mit offen-
barer Ueberlegung alles, was nicht univerſalhiſtoriſch, nicht Sache aller
Menſchen werden konnte. Wie ſich das Chriſtenthum urſprünglich aus
dem Haufen der Elenden und Verachteten ſeine Anhänger geholt,
und gleichſam in ſeinem Urſprung ſchon die demokratiſche Richtung
hatte, ſo ſuchte es auch dieſe Popularität fortwährend zu erhalten.

Der erſte große Schritt zur künftigen Bildung des Chriſtenthums
war der Eifer des Apoſtels Paulus, der jene Lehre zuerſt unter die
Heiden trug. Nur in dem fremden Boden konnte es ſich geſtalten.
Es war nothwendig, daß die orientaliſchen Ideen in den occidentaliſchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0102" n="426"/>
            <p>In den er&#x017F;ten &#x017F;chriftlichen Denkmälern der Ge&#x017F;chichte des Chri&#x017F;ten-<lb/>
thums rührt &#x017F;ich &#x017F;chon der Gegen&#x017F;atz des reali&#x017F;ti&#x017F;chen und ideali&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Princips im Chri&#x017F;tenthum. Der Verfa&#x017F;&#x017F;er des Evangeliums Johannis<lb/>
i&#x017F;t von den Ideen einer höheren Erkenntniß begei&#x017F;tert und nimmt die&#x017F;e<lb/>
zur Einleitung in &#x017F;eine einfache und &#x017F;tille Erzählung von dem Leben<lb/>
Chri&#x017F;ti; die andern erzählen im jüdi&#x017F;chen Gei&#x017F;t und umgeben &#x017F;eine Ge-<lb/>
&#x017F;chichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Wei&#x017F;&#x017F;agungen im A. T.<lb/>
erfunden waren. Sie &#x017F;ind <hi rendition="#aq">a priori</hi> überzeugt, daß die&#x017F;e Ge&#x017F;chichten<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;o ereignet haben mü&#x017F;&#x017F;en, da &#x017F;ie im A. T. vom Me&#x017F;&#x017F;ias prophezeit<lb/>
&#x017F;ind, deßwegen &#x017F;etzen &#x017F;ie hinzu: &#x201E;auf daß erfüllet würde, was ge&#x017F;chrieben<lb/>
&#x017F;teht&#x201C;, und in Beziehung auf &#x017F;ie kann man &#x017F;agen: Chri&#x017F;tus &#x017F;ey eine<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;che Per&#x017F;on, deren Biographie &#x017F;chon vor ihrer Geburt verzeichnet<lb/>
gewe&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t wichtig gleich mit die&#x017F;en er&#x017F;ten Regungen der Gegen&#x017F;ätze<lb/>
im Chri&#x017F;tenthum zu bemerken, wie das reali&#x017F;ti&#x017F;che Princip durchaus<lb/>
das Uebergewicht behauptet und auch in der Folge erhält, welches noth-<lb/>
wendig war, wenn das Chri&#x017F;tenthum &#x017F;ich nicht eben&#x017F;o wie alle andern<lb/>
ur&#x017F;prünglich orientali&#x017F;chen Religionen in Philo&#x017F;ophie auflö&#x017F;en &#x017F;ollte.<lb/>
Schon zu der Zeit als die er&#x017F;ten Berichte vom Leben Je&#x017F;u abgefaßt<lb/>
wurden, bildete &#x017F;ich im Chri&#x017F;tenthum &#x017F;elb&#x017F;t ein engerer Kreis gei&#x017F;tige-<lb/>
rer Erkenntniß, Gno&#x017F;is genannt. Es beweist ein richtiges Gefühl,<lb/>
ein &#x017F;icheres Bewußt&#x017F;eyn de&#x017F;&#x017F;en, was &#x017F;ie wollen mußten, in den er&#x017F;ten<lb/>
Verbreitern des Chri&#x017F;tenthums, daß &#x017F;ie &#x017F;ich wie einmüthig dem Ein-<lb/>
dringen philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Sy&#x017F;teme wider&#x017F;etzten. Sie entfernten mit offen-<lb/>
barer Ueberlegung alles, was nicht univer&#x017F;alhi&#x017F;tori&#x017F;ch, nicht Sache aller<lb/>
Men&#x017F;chen werden konnte. Wie &#x017F;ich das Chri&#x017F;tenthum ur&#x017F;prünglich aus<lb/>
dem Haufen der Elenden und Verachteten &#x017F;eine Anhänger geholt,<lb/>
und gleich&#x017F;am in &#x017F;einem Ur&#x017F;prung &#x017F;chon die demokrati&#x017F;che Richtung<lb/>
hatte, &#x017F;o &#x017F;uchte es auch die&#x017F;e Popularität fortwährend zu erhalten.</p><lb/>
            <p>Der er&#x017F;te große Schritt zur künftigen Bildung des Chri&#x017F;tenthums<lb/>
war der Eifer des Apo&#x017F;tels Paulus, der jene Lehre zuer&#x017F;t unter die<lb/>
Heiden trug. Nur in dem fremden Boden konnte es &#x017F;ich ge&#x017F;talten.<lb/>
Es war nothwendig, daß die orientali&#x017F;chen Ideen in den occidentali&#x017F;chen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[426/0102] In den erſten ſchriftlichen Denkmälern der Geſchichte des Chriſten- thums rührt ſich ſchon der Gegenſatz des realiſtiſchen und idealiſtiſchen Princips im Chriſtenthum. Der Verfaſſer des Evangeliums Johannis iſt von den Ideen einer höheren Erkenntniß begeiſtert und nimmt dieſe zur Einleitung in ſeine einfache und ſtille Erzählung von dem Leben Chriſti; die andern erzählen im jüdiſchen Geiſt und umgeben ſeine Ge- ſchichte mit Fabeln, die nach Anleitung der Weiſſagungen im A. T. erfunden waren. Sie ſind a priori überzeugt, daß dieſe Geſchichten ſich ſo ereignet haben müſſen, da ſie im A. T. vom Meſſias prophezeit ſind, deßwegen ſetzen ſie hinzu: „auf daß erfüllet würde, was geſchrieben ſteht“, und in Beziehung auf ſie kann man ſagen: Chriſtus ſey eine hiſtoriſche Perſon, deren Biographie ſchon vor ihrer Geburt verzeichnet geweſen. Es iſt wichtig gleich mit dieſen erſten Regungen der Gegenſätze im Chriſtenthum zu bemerken, wie das realiſtiſche Princip durchaus das Uebergewicht behauptet und auch in der Folge erhält, welches noth- wendig war, wenn das Chriſtenthum ſich nicht ebenſo wie alle andern urſprünglich orientaliſchen Religionen in Philoſophie auflöſen ſollte. Schon zu der Zeit als die erſten Berichte vom Leben Jeſu abgefaßt wurden, bildete ſich im Chriſtenthum ſelbſt ein engerer Kreis geiſtige- rer Erkenntniß, Gnoſis genannt. Es beweist ein richtiges Gefühl, ein ſicheres Bewußtſeyn deſſen, was ſie wollen mußten, in den erſten Verbreitern des Chriſtenthums, daß ſie ſich wie einmüthig dem Ein- dringen philoſophiſcher Syſteme widerſetzten. Sie entfernten mit offen- barer Ueberlegung alles, was nicht univerſalhiſtoriſch, nicht Sache aller Menſchen werden konnte. Wie ſich das Chriſtenthum urſprünglich aus dem Haufen der Elenden und Verachteten ſeine Anhänger geholt, und gleichſam in ſeinem Urſprung ſchon die demokratiſche Richtung hatte, ſo ſuchte es auch dieſe Popularität fortwährend zu erhalten. Der erſte große Schritt zur künftigen Bildung des Chriſtenthums war der Eifer des Apoſtels Paulus, der jene Lehre zuerſt unter die Heiden trug. Nur in dem fremden Boden konnte es ſich geſtalten. Es war nothwendig, daß die orientaliſchen Ideen in den occidentaliſchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/102
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/102>, abgerufen am 28.11.2024.