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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Es ist nothwendig, auf die historischen Anfänge des Christenthums
zurückzugehen, selbst um nachher die Poesie, die sich aus ihm zu einem
unabhängigen Ganzen gestaltet hat, zu begreifen. Um diese Art der
Poesie, die von der antiken nicht bloß gradweise, sondern ganz ver-
schieden ist, nur überhaupt zuerst in ihrem Gegensatz zu fassen, müssen
wir die früheren Zustände, die der späteren Verklärung zur Poesie
vorangehen, aufzufassen suchen.

Wir erkennen in der ersten Epoche des Christenthums gleich zwei
ganz verschiedene Momente. Der erste, wo es sich ganz innerhalb der
Mutterreligion -- der jüdischen -- als Glaube einer einzelnen Sekte
hielt; weiter hatte es Christus selbst nicht geführt, obgleich er, soviel
man von seiner Geschichte weiß, von einer sehr hohen Ahndung der
weiteren Verbreitung seiner Lehre erfüllt war und gewissermaßen seyn
mußte. Die jüdische Mythologie, welche sich erst, nachdem diese Nation
durch ihre politische Unterjochung mit fremden Völkern in nähere Be-
rührung kam, einigermaßen geläutert hatte -- indem sie alle höheren
Vorstellungsarten, selbst den philosophischen Monotheismus bloß fremden
Völkern verdankte -- war in ihrem Ursprung und an sich eine ganz
realistische Mythologie. In diesen rohen Stoff senkte Christus den
Keim einer höheren Sittlichkeit, es sey nun, daß er diesen aus sich
ganz unabhängig geschöpft habe oder nicht (Hypothese eines Verhältnisses
Christi zu den Essäern). Wir können nicht beurtheilen, wieweit sich
die besondere Wirkung Christi erstreckt hätte ohne die nachherigen Er-
eignisse. Was seiner Sache den höchsten Schwung gab, war die letzte
Katastrophe seines Lebens und das vielleicht beispiellose Ereigniß, daß
er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervorging, eine
Thatsache, welche etwa als Allegorie wegerklären und also als Faktum
leugnen zu wollen, historisch wahnsinnig ist, da diese Eine Begebenheit
die ganze Geschichte des Christenthums gemacht hat. Alle Wunder,
die man nachher auf dieß Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht ver-
mocht. Von diesem Augenblick an war Christus der Heros einer neuen
Welt, das Niedrigste ward zum Höchsten, das Kreuz, das Zeichen der
tiefsten Schmach, ward zum Zeichen der Welteroberung.

Es iſt nothwendig, auf die hiſtoriſchen Anfänge des Chriſtenthums
zurückzugehen, ſelbſt um nachher die Poeſie, die ſich aus ihm zu einem
unabhängigen Ganzen geſtaltet hat, zu begreifen. Um dieſe Art der
Poeſie, die von der antiken nicht bloß gradweiſe, ſondern ganz ver-
ſchieden iſt, nur überhaupt zuerſt in ihrem Gegenſatz zu faſſen, müſſen
wir die früheren Zuſtände, die der ſpäteren Verklärung zur Poeſie
vorangehen, aufzufaſſen ſuchen.

Wir erkennen in der erſten Epoche des Chriſtenthums gleich zwei
ganz verſchiedene Momente. Der erſte, wo es ſich ganz innerhalb der
Mutterreligion — der jüdiſchen — als Glaube einer einzelnen Sekte
hielt; weiter hatte es Chriſtus ſelbſt nicht geführt, obgleich er, ſoviel
man von ſeiner Geſchichte weiß, von einer ſehr hohen Ahndung der
weiteren Verbreitung ſeiner Lehre erfüllt war und gewiſſermaßen ſeyn
mußte. Die jüdiſche Mythologie, welche ſich erſt, nachdem dieſe Nation
durch ihre politiſche Unterjochung mit fremden Völkern in nähere Be-
rührung kam, einigermaßen geläutert hatte — indem ſie alle höheren
Vorſtellungsarten, ſelbſt den philoſophiſchen Monotheismus bloß fremden
Völkern verdankte — war in ihrem Urſprung und an ſich eine ganz
realiſtiſche Mythologie. In dieſen rohen Stoff ſenkte Chriſtus den
Keim einer höheren Sittlichkeit, es ſey nun, daß er dieſen aus ſich
ganz unabhängig geſchöpft habe oder nicht (Hypotheſe eines Verhältniſſes
Chriſti zu den Eſſäern). Wir können nicht beurtheilen, wieweit ſich
die beſondere Wirkung Chriſti erſtreckt hätte ohne die nachherigen Er-
eigniſſe. Was ſeiner Sache den höchſten Schwung gab, war die letzte
Kataſtrophe ſeines Lebens und das vielleicht beiſpielloſe Ereigniß, daß
er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervorging, eine
Thatſache, welche etwa als Allegorie wegerklären und alſo als Faktum
leugnen zu wollen, hiſtoriſch wahnſinnig iſt, da dieſe Eine Begebenheit
die ganze Geſchichte des Chriſtenthums gemacht hat. Alle Wunder,
die man nachher auf dieß Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht ver-
mocht. Von dieſem Augenblick an war Chriſtus der Heros einer neuen
Welt, das Niedrigſte ward zum Höchſten, das Kreuz, das Zeichen der
tiefſten Schmach, ward zum Zeichen der Welteroberung.

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[425/0101] Es iſt nothwendig, auf die hiſtoriſchen Anfänge des Chriſtenthums zurückzugehen, ſelbſt um nachher die Poeſie, die ſich aus ihm zu einem unabhängigen Ganzen geſtaltet hat, zu begreifen. Um dieſe Art der Poeſie, die von der antiken nicht bloß gradweiſe, ſondern ganz ver- ſchieden iſt, nur überhaupt zuerſt in ihrem Gegenſatz zu faſſen, müſſen wir die früheren Zuſtände, die der ſpäteren Verklärung zur Poeſie vorangehen, aufzufaſſen ſuchen. Wir erkennen in der erſten Epoche des Chriſtenthums gleich zwei ganz verſchiedene Momente. Der erſte, wo es ſich ganz innerhalb der Mutterreligion — der jüdiſchen — als Glaube einer einzelnen Sekte hielt; weiter hatte es Chriſtus ſelbſt nicht geführt, obgleich er, ſoviel man von ſeiner Geſchichte weiß, von einer ſehr hohen Ahndung der weiteren Verbreitung ſeiner Lehre erfüllt war und gewiſſermaßen ſeyn mußte. Die jüdiſche Mythologie, welche ſich erſt, nachdem dieſe Nation durch ihre politiſche Unterjochung mit fremden Völkern in nähere Be- rührung kam, einigermaßen geläutert hatte — indem ſie alle höheren Vorſtellungsarten, ſelbſt den philoſophiſchen Monotheismus bloß fremden Völkern verdankte — war in ihrem Urſprung und an ſich eine ganz realiſtiſche Mythologie. In dieſen rohen Stoff ſenkte Chriſtus den Keim einer höheren Sittlichkeit, es ſey nun, daß er dieſen aus ſich ganz unabhängig geſchöpft habe oder nicht (Hypotheſe eines Verhältniſſes Chriſti zu den Eſſäern). Wir können nicht beurtheilen, wieweit ſich die beſondere Wirkung Chriſti erſtreckt hätte ohne die nachherigen Er- eigniſſe. Was ſeiner Sache den höchſten Schwung gab, war die letzte Kataſtrophe ſeines Lebens und das vielleicht beiſpielloſe Ereigniß, daß er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervorging, eine Thatſache, welche etwa als Allegorie wegerklären und alſo als Faktum leugnen zu wollen, hiſtoriſch wahnſinnig iſt, da dieſe Eine Begebenheit die ganze Geſchichte des Chriſtenthums gemacht hat. Alle Wunder, die man nachher auf dieß Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht ver- mocht. Von dieſem Augenblick an war Chriſtus der Heros einer neuen Welt, das Niedrigſte ward zum Höchſten, das Kreuz, das Zeichen der tiefſten Schmach, ward zum Zeichen der Welteroberung.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/101>, abgerufen am 28.11.2024.