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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Christenthum mit schnellen Schritten zur Universalherrschaft fortging. Nicht
nur daß es in einem Zeitalter des Unglücks und eines zerfallenden
Reichs, dessen Macht bloß zeitlich war, und das nichts enthielt, wozu
der Mensch in einem solchen Zustand hätte flüchten können, wo der
Muth und gleichsam das Herz zum Objekt verloren war: nicht nur,
sage ich, daß es in einem solchen Zeitalter in einer Religion, welche
Verleugnung lehrte und sogar zum Glück machte, ein allgemeines Asyl
öffnete, es that noch mehr, es verband, sobald es sich zur Hierarchie
entwickelte, alle Theile der kultivirten Welt und ging von seinem Be-
ginn wie eine Universalrepublik, aber auf geistliche Eroberungen aus.
(Proselytenmacherei, Bekehrung der Heiden, Verjagen der Saracenen
und Türken aus Europa, Missionen in späteren Zeiten).

Bei dem großen, universellen Sinn der Kirche konnte ihr nichts
fremd bleiben, nichts, was in der Welt gewesen, schloß sie von sich
aus: sie konnte alles mit sich vereinigen. Vorzüglich von der Seite des
Cultus, als der einzigen, von welcher sie symbolisch seyn konnte, ver-
stattete sie auch dem Heidenthum wieder den Eingang. Der katholische
Cultus vereinigte die religiösen Gebräuche der ältesten Völker mit denen
der spätesten, nur daß für die meisten in der Folgezeit der Schlüssel
verloren gegangen ist. Die ersten Erfinder jener symbolischen Gebräuche,
die großen Köpfe, welche den ersten Gedanken und Entwurf zu diesem
Ganzen machten und in ihm, als in einem lebendigen Kunstwerk,
fortlebten, sind gewiß nicht so einfältig gewesen, um von unsern blöd-
sinnigen Aufklärern übersehen zu werden, die, wenn man sie alle ver-
einte und hundert Jahre machen ließe -- doch nichts als Sandhaufen
zusammenbrächten.

Der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt, ist, einzusehen, wie
dem allgemeinen Charakter der Subjektivität und Idealität des Christen-
thums gemäß das Symbolische hier durchaus in das Handeln (in Hand-
lungen) fallen müsse. Wie die Grundanschauung des Christenthums
die historische ist, so ist es nothwendig, daß das Christenthum eine
mythologische Geschichte der Welt enthalten müsse. Die Menschwerdung
Christi ist selbst nur im Zusammenhang mit einer allgemeinen Vorstellung

Chriſtenthum mit ſchnellen Schritten zur Univerſalherrſchaft fortging. Nicht
nur daß es in einem Zeitalter des Unglücks und eines zerfallenden
Reichs, deſſen Macht bloß zeitlich war, und das nichts enthielt, wozu
der Menſch in einem ſolchen Zuſtand hätte flüchten können, wo der
Muth und gleichſam das Herz zum Objekt verloren war: nicht nur,
ſage ich, daß es in einem ſolchen Zeitalter in einer Religion, welche
Verleugnung lehrte und ſogar zum Glück machte, ein allgemeines Aſyl
öffnete, es that noch mehr, es verband, ſobald es ſich zur Hierarchie
entwickelte, alle Theile der kultivirten Welt und ging von ſeinem Be-
ginn wie eine Univerſalrepublik, aber auf geiſtliche Eroberungen aus.
(Proſelytenmacherei, Bekehrung der Heiden, Verjagen der Saracenen
und Türken aus Europa, Miſſionen in ſpäteren Zeiten).

Bei dem großen, univerſellen Sinn der Kirche konnte ihr nichts
fremd bleiben, nichts, was in der Welt geweſen, ſchloß ſie von ſich
aus: ſie konnte alles mit ſich vereinigen. Vorzüglich von der Seite des
Cultus, als der einzigen, von welcher ſie ſymboliſch ſeyn konnte, ver-
ſtattete ſie auch dem Heidenthum wieder den Eingang. Der katholiſche
Cultus vereinigte die religiöſen Gebräuche der älteſten Völker mit denen
der ſpäteſten, nur daß für die meiſten in der Folgezeit der Schlüſſel
verloren gegangen iſt. Die erſten Erfinder jener ſymboliſchen Gebräuche,
die großen Köpfe, welche den erſten Gedanken und Entwurf zu dieſem
Ganzen machten und in ihm, als in einem lebendigen Kunſtwerk,
fortlebten, ſind gewiß nicht ſo einfältig geweſen, um von unſern blöd-
ſinnigen Aufklärern überſehen zu werden, die, wenn man ſie alle ver-
einte und hundert Jahre machen ließe — doch nichts als Sandhaufen
zuſammenbrächten.

Der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt, iſt, einzuſehen, wie
dem allgemeinen Charakter der Subjektivität und Idealität des Chriſten-
thums gemäß das Symboliſche hier durchaus in das Handeln (in Hand-
lungen) fallen müſſe. Wie die Grundanſchauung des Chriſtenthums
die hiſtoriſche iſt, ſo iſt es nothwendig, daß das Chriſtenthum eine
mythologiſche Geſchichte der Welt enthalten müſſe. Die Menſchwerdung
Chriſti iſt ſelbſt nur im Zuſammenhang mit einer allgemeinen Vorſtellung

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[435/0111] Chriſtenthum mit ſchnellen Schritten zur Univerſalherrſchaft fortging. Nicht nur daß es in einem Zeitalter des Unglücks und eines zerfallenden Reichs, deſſen Macht bloß zeitlich war, und das nichts enthielt, wozu der Menſch in einem ſolchen Zuſtand hätte flüchten können, wo der Muth und gleichſam das Herz zum Objekt verloren war: nicht nur, ſage ich, daß es in einem ſolchen Zeitalter in einer Religion, welche Verleugnung lehrte und ſogar zum Glück machte, ein allgemeines Aſyl öffnete, es that noch mehr, es verband, ſobald es ſich zur Hierarchie entwickelte, alle Theile der kultivirten Welt und ging von ſeinem Be- ginn wie eine Univerſalrepublik, aber auf geiſtliche Eroberungen aus. (Proſelytenmacherei, Bekehrung der Heiden, Verjagen der Saracenen und Türken aus Europa, Miſſionen in ſpäteren Zeiten). Bei dem großen, univerſellen Sinn der Kirche konnte ihr nichts fremd bleiben, nichts, was in der Welt geweſen, ſchloß ſie von ſich aus: ſie konnte alles mit ſich vereinigen. Vorzüglich von der Seite des Cultus, als der einzigen, von welcher ſie ſymboliſch ſeyn konnte, ver- ſtattete ſie auch dem Heidenthum wieder den Eingang. Der katholiſche Cultus vereinigte die religiöſen Gebräuche der älteſten Völker mit denen der ſpäteſten, nur daß für die meiſten in der Folgezeit der Schlüſſel verloren gegangen iſt. Die erſten Erfinder jener ſymboliſchen Gebräuche, die großen Köpfe, welche den erſten Gedanken und Entwurf zu dieſem Ganzen machten und in ihm, als in einem lebendigen Kunſtwerk, fortlebten, ſind gewiß nicht ſo einfältig geweſen, um von unſern blöd- ſinnigen Aufklärern überſehen zu werden, die, wenn man ſie alle ver- einte und hundert Jahre machen ließe — doch nichts als Sandhaufen zuſammenbrächten. Der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt, iſt, einzuſehen, wie dem allgemeinen Charakter der Subjektivität und Idealität des Chriſten- thums gemäß das Symboliſche hier durchaus in das Handeln (in Hand- lungen) fallen müſſe. Wie die Grundanſchauung des Chriſtenthums die hiſtoriſche iſt, ſo iſt es nothwendig, daß das Chriſtenthum eine mythologiſche Geſchichte der Welt enthalten müſſe. Die Menſchwerdung Chriſti iſt ſelbſt nur im Zuſammenhang mit einer allgemeinen Vorſtellung

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/111>, abgerufen am 27.11.2024.