der Menschengeschichte denkbar. Es gibt im Christenthum keine wahre Kosmogonie. Was im A. T. davon vorkommt, sind sehr unvollkommene Versuche. Handlung, Geschichte ist überall nur, wo Vielheit ist. Insofern also Handlung in der göttlichen Welt ist, inso- fern muß auch in ihr Vielheit seyn. Sie kann aber dem Geist des Christenthums nach nicht als polytheistisch gedacht werden, also nur durch die Hülfe von Mittelwesen, welche in dem unmittelbaren An- schauen der Gottheit und die ersten Geschöpfe, die ersten Hervorbrin- gungen der göttlichen Substanz sind. Solche Wesen sind im Christen- thum die Engel.
Man könnte vielleicht versucht werden, die Engel als den Ersatz des Polytheismus im Christenthum zu betrachten, um so mehr, da sie ihrem eigenthümlichen Ursprung im Orient nach ebenso bestimmt Per- sonificationen der Ideen sind als die Götter der griechischen Mytho- logie. Auch ist bekannt, welchen starken Gebrauch die neuern christlichen Dichter, Milton, Klopstock u. a. von diesen Mittelwesen machen zu müssen glaubten, fast so arg als Wieland von den Grazien. Allein der Unterschied ist nur der, daß die griechischen Götter die wirklich real-angeschauten Ideen sind, da bei den Engeln sogar noch ihre Leib- lichkeit zweifelhaft ist, und sie also selbst wieder unsinnliche Wesen sind. Wollte man die Engel als Personificationen von Wirkungen Gottes auf die Sinnenwelt denken, so wären sie als solche in ihrer Unbestimmt- heit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und also zur Poesie un- brauchbar 1. Die Engel und ihre Verfassung haben gleichsam selbst erst einen Leib in der Kirche bekommen, deren Hierarchie ein unmittel- bares Abbild des himmlischen Reichs seyn sollte. Deßwegen ist nur die Kirche im Christenthum symbolisch. Die Engel sind keine Naturwesen; es fehlt also durchgängig an der Begrenzung; selbst die obersten der- selben fließen fast ineinander, und die ganze Masse ist, wie die Hei- ligenscheine mancher großer italienischer Maler, die in der Nähe genau betrachtet aus lauter kleinen Engelköpfen bestehen, fast brei- artig. Es ist, als ob man dieses Zerfließen im Christenthum durch
1 Vergl. I. Abth., Bd. 1, S. 473. D. H.
der Menſchengeſchichte denkbar. Es gibt im Chriſtenthum keine wahre Kosmogonie. Was im A. T. davon vorkommt, ſind ſehr unvollkommene Verſuche. Handlung, Geſchichte iſt überall nur, wo Vielheit iſt. Inſofern alſo Handlung in der göttlichen Welt iſt, inſo- fern muß auch in ihr Vielheit ſeyn. Sie kann aber dem Geiſt des Chriſtenthums nach nicht als polytheiſtiſch gedacht werden, alſo nur durch die Hülfe von Mittelweſen, welche in dem unmittelbaren An- ſchauen der Gottheit und die erſten Geſchöpfe, die erſten Hervorbrin- gungen der göttlichen Subſtanz ſind. Solche Weſen ſind im Chriſten- thum die Engel.
Man könnte vielleicht verſucht werden, die Engel als den Erſatz des Polytheismus im Chriſtenthum zu betrachten, um ſo mehr, da ſie ihrem eigenthümlichen Urſprung im Orient nach ebenſo beſtimmt Per- ſonificationen der Ideen ſind als die Götter der griechiſchen Mytho- logie. Auch iſt bekannt, welchen ſtarken Gebrauch die neuern chriſtlichen Dichter, Milton, Klopſtock u. a. von dieſen Mittelweſen machen zu müſſen glaubten, faſt ſo arg als Wieland von den Grazien. Allein der Unterſchied iſt nur der, daß die griechiſchen Götter die wirklich real-angeſchauten Ideen ſind, da bei den Engeln ſogar noch ihre Leib- lichkeit zweifelhaft iſt, und ſie alſo ſelbſt wieder unſinnliche Weſen ſind. Wollte man die Engel als Perſonificationen von Wirkungen Gottes auf die Sinnenwelt denken, ſo wären ſie als ſolche in ihrer Unbeſtimmt- heit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und alſo zur Poeſie un- brauchbar 1. Die Engel und ihre Verfaſſung haben gleichſam ſelbſt erſt einen Leib in der Kirche bekommen, deren Hierarchie ein unmittel- bares Abbild des himmliſchen Reichs ſeyn ſollte. Deßwegen iſt nur die Kirche im Chriſtenthum ſymboliſch. Die Engel ſind keine Naturweſen; es fehlt alſo durchgängig an der Begrenzung; ſelbſt die oberſten der- ſelben fließen faſt ineinander, und die ganze Maſſe iſt, wie die Hei- ligenſcheine mancher großer italieniſcher Maler, die in der Nähe genau betrachtet aus lauter kleinen Engelköpfen beſtehen, faſt brei- artig. Es iſt, als ob man dieſes Zerfließen im Chriſtenthum durch
1 Vergl. I. Abth., Bd. 1, S. 473. D. H.
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der Menſchengeſchichte denkbar. Es gibt im Chriſtenthum keine
wahre Kosmogonie. Was im A. T. davon vorkommt, ſind ſehr
unvollkommene Verſuche. Handlung, Geſchichte iſt überall nur, wo
Vielheit iſt. Inſofern alſo Handlung in der göttlichen Welt iſt, inſo-
fern muß auch in ihr Vielheit ſeyn. Sie kann aber dem Geiſt des
Chriſtenthums nach nicht als polytheiſtiſch gedacht werden, alſo nur
durch die Hülfe von Mittelweſen, welche in dem unmittelbaren An-
ſchauen der Gottheit und die erſten Geſchöpfe, die erſten Hervorbrin-
gungen der göttlichen Subſtanz ſind. Solche Weſen ſind im Chriſten-
thum die Engel.
Man könnte vielleicht verſucht werden, die Engel als den Erſatz
des Polytheismus im Chriſtenthum zu betrachten, um ſo mehr, da ſie
ihrem eigenthümlichen Urſprung im Orient nach ebenſo beſtimmt Per-
ſonificationen der Ideen ſind als die Götter der griechiſchen Mytho-
logie. Auch iſt bekannt, welchen ſtarken Gebrauch die neuern chriſtlichen
Dichter, Milton, Klopſtock u. a. von dieſen Mittelweſen machen zu
müſſen glaubten, faſt ſo arg als Wieland von den Grazien. Allein
der Unterſchied iſt nur der, daß die griechiſchen Götter die wirklich
real-angeſchauten Ideen ſind, da bei den Engeln ſogar noch ihre Leib-
lichkeit zweifelhaft iſt, und ſie alſo ſelbſt wieder unſinnliche Weſen ſind.
Wollte man die Engel als Perſonificationen von Wirkungen Gottes
auf die Sinnenwelt denken, ſo wären ſie als ſolche in ihrer Unbeſtimmt-
heit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und alſo zur Poeſie un-
brauchbar 1. Die Engel und ihre Verfaſſung haben gleichſam ſelbſt
erſt einen Leib in der Kirche bekommen, deren Hierarchie ein unmittel-
bares Abbild des himmliſchen Reichs ſeyn ſollte. Deßwegen iſt nur die
Kirche im Chriſtenthum ſymboliſch. Die Engel ſind keine Naturweſen;
es fehlt alſo durchgängig an der Begrenzung; ſelbſt die oberſten der-
ſelben fließen faſt ineinander, und die ganze Maſſe iſt, wie die Hei-
ligenſcheine mancher großer italieniſcher Maler, die in der Nähe
genau betrachtet aus lauter kleinen Engelköpfen beſtehen, faſt brei-
artig. Es iſt, als ob man dieſes Zerfließen im Chriſtenthum durch
1 Vergl. I. Abth., Bd. 1, S. 473. D. H.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/112>, abgerufen am 27.11.2024.
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