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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Von der Musik der Alten haben wir allerdings nicht die anschau-
liche
Vorstellung. Man sehe Rousseau in seinem Dictionnaire de
Musique
(noch immer das gedachteste Werk über diese Kunst), wo man
findet, wie wenig wir daran denken können, eine antike Musik auch
nur einigermaßen durch Aufführung anschaulich zu machen. Da die
Griechen in allen Künsten groß waren, so waren sie es gewiß auch in
der Musik. So wenig wir indeß davon wissen, so doch so viel, daß
auch hier das realistische, plastische, heroische Princip das herrschende,
und dieß einzig dadurch, daß dem Rhythmus alles untergeordnet war.
Das Herrschende der neueren Musik ist die Harmonie, welche eben das
Entgegengesetzte der rhythmischen Melodie der Alten ist, wie ich dieß
noch bestimmter zeigen werde.

Die einzige, obgleich höchst verstellte Spur der alten Musik ist noch
in dem Choral übrig. Zwar hatte, wie Rousseau sagt, zu der Zeit,
als die Christen anfingen in eignen Kirchen Hymnen und Psalmen zu
singen, die Musik schon fast allen ihren Nachdruck verloren. Die
Christen nahmen sie, wie sie dieselbe fanden, und beraubten sie noch
ihrer größten Kraft, des Zeitmaßes und des Rhythmus, aber doch blieb
der Choral in den alten Zeiten immer einstimmig, und dieß ist es
eigentlich, was Canto Firmo heißt. In späteren Zeiten wurde er
immer vierstimmig gesetzt, und die verwickelten Künste der Harmonie
haben sich auch in den Kirchengesang ausgebreitet. Die Christen nahmen
die Musik erst von der gebundenen Rede ab, und setzten sie auf die
Prosa der heiligen Bücher oder eine völlig barbarische Poesie. So ent-
stand der Gesang, der jetzt ohne Takt und mit immer einerlei Schritten
fortgeschleppt wird, und verlor mit dem rhythmischen Gang alle Energie.
Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verse, weil
das Zeitmaß der Sylben und die Füße beibehalten wurden. Aber aller
dieser Mängel unerachtet findet auch Rousseau in dem Choral, den die
Priester in der römischen Kirche in seinem ursprünglichen Charakter er-
halten haben, höchst schätzbare Ueberbleibsel des alten Gesanges und
seiner verschiedenen Tonarten, soweit es möglich war sie ohne Takt
und Rhythmus zu erhalten.

Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 32

Von der Muſik der Alten haben wir allerdings nicht die anſchau-
liche
Vorſtellung. Man ſehe Rouſſeau in ſeinem Dictionnaire de
Musique
(noch immer das gedachteſte Werk über dieſe Kunſt), wo man
findet, wie wenig wir daran denken können, eine antike Muſik auch
nur einigermaßen durch Aufführung anſchaulich zu machen. Da die
Griechen in allen Künſten groß waren, ſo waren ſie es gewiß auch in
der Muſik. So wenig wir indeß davon wiſſen, ſo doch ſo viel, daß
auch hier das realiſtiſche, plaſtiſche, heroiſche Princip das herrſchende,
und dieß einzig dadurch, daß dem Rhythmus alles untergeordnet war.
Das Herrſchende der neueren Muſik iſt die Harmonie, welche eben das
Entgegengeſetzte der rhythmiſchen Melodie der Alten iſt, wie ich dieß
noch beſtimmter zeigen werde.

Die einzige, obgleich höchſt verſtellte Spur der alten Muſik iſt noch
in dem Choral übrig. Zwar hatte, wie Rouſſeau ſagt, zu der Zeit,
als die Chriſten anfingen in eignen Kirchen Hymnen und Pſalmen zu
ſingen, die Muſik ſchon faſt allen ihren Nachdruck verloren. Die
Chriſten nahmen ſie, wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten ſie noch
ihrer größten Kraft, des Zeitmaßes und des Rhythmus, aber doch blieb
der Choral in den alten Zeiten immer einſtimmig, und dieß iſt es
eigentlich, was Canto Firmo heißt. In ſpäteren Zeiten wurde er
immer vierſtimmig geſetzt, und die verwickelten Künſte der Harmonie
haben ſich auch in den Kirchengeſang ausgebreitet. Die Chriſten nahmen
die Muſik erſt von der gebundenen Rede ab, und ſetzten ſie auf die
Proſa der heiligen Bücher oder eine völlig barbariſche Poeſie. So ent-
ſtand der Geſang, der jetzt ohne Takt und mit immer einerlei Schritten
fortgeſchleppt wird, und verlor mit dem rhythmiſchen Gang alle Energie.
Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verſe, weil
das Zeitmaß der Sylben und die Füße beibehalten wurden. Aber aller
dieſer Mängel unerachtet findet auch Rouſſeau in dem Choral, den die
Prieſter in der römiſchen Kirche in ſeinem urſprünglichen Charakter er-
halten haben, höchſt ſchätzbare Ueberbleibſel des alten Geſanges und
ſeiner verſchiedenen Tonarten, ſoweit es möglich war ſie ohne Takt
und Rhythmus zu erhalten.

Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 32
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[497/0173] Von der Muſik der Alten haben wir allerdings nicht die anſchau- liche Vorſtellung. Man ſehe Rouſſeau in ſeinem Dictionnaire de Musique (noch immer das gedachteſte Werk über dieſe Kunſt), wo man findet, wie wenig wir daran denken können, eine antike Muſik auch nur einigermaßen durch Aufführung anſchaulich zu machen. Da die Griechen in allen Künſten groß waren, ſo waren ſie es gewiß auch in der Muſik. So wenig wir indeß davon wiſſen, ſo doch ſo viel, daß auch hier das realiſtiſche, plaſtiſche, heroiſche Princip das herrſchende, und dieß einzig dadurch, daß dem Rhythmus alles untergeordnet war. Das Herrſchende der neueren Muſik iſt die Harmonie, welche eben das Entgegengeſetzte der rhythmiſchen Melodie der Alten iſt, wie ich dieß noch beſtimmter zeigen werde. Die einzige, obgleich höchſt verſtellte Spur der alten Muſik iſt noch in dem Choral übrig. Zwar hatte, wie Rouſſeau ſagt, zu der Zeit, als die Chriſten anfingen in eignen Kirchen Hymnen und Pſalmen zu ſingen, die Muſik ſchon faſt allen ihren Nachdruck verloren. Die Chriſten nahmen ſie, wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten ſie noch ihrer größten Kraft, des Zeitmaßes und des Rhythmus, aber doch blieb der Choral in den alten Zeiten immer einſtimmig, und dieß iſt es eigentlich, was Canto Firmo heißt. In ſpäteren Zeiten wurde er immer vierſtimmig geſetzt, und die verwickelten Künſte der Harmonie haben ſich auch in den Kirchengeſang ausgebreitet. Die Chriſten nahmen die Muſik erſt von der gebundenen Rede ab, und ſetzten ſie auf die Proſa der heiligen Bücher oder eine völlig barbariſche Poeſie. So ent- ſtand der Geſang, der jetzt ohne Takt und mit immer einerlei Schritten fortgeſchleppt wird, und verlor mit dem rhythmiſchen Gang alle Energie. Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verſe, weil das Zeitmaß der Sylben und die Füße beibehalten wurden. Aber aller dieſer Mängel unerachtet findet auch Rouſſeau in dem Choral, den die Prieſter in der römiſchen Kirche in ſeinem urſprünglichen Charakter er- halten haben, höchſt ſchätzbare Ueberbleibſel des alten Geſanges und ſeiner verſchiedenen Tonarten, ſoweit es möglich war ſie ohne Takt und Rhythmus zu erhalten. Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 32

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/173>, abgerufen am 21.11.2024.