§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der drei Einheiten der Musik unter die erste ist, steht die Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter die andere entgegen. -- Die Harmonie als ein Gegensatz der Melodie ist allgemein auch bei den bloß empirischen Theoretikern aner- kannt. Melodie ist in der Musik die absolute Einbildung des Unend- lichen ins Endliche, also die ganze Einheit. Harmonie ist gleichfalls Musik, insofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz, aber diese Einheit wird hier durch die entgegengesetzte -- die ideale Einheit -- symbolisirt. Im gemeinen Sprachgebrauch sagt man von einem Tonkünstler, daß er die Melodie verstehe, wenn er einen ein- stimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Gesang setzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit (Ausdehnung nach der zweiten Dimension) zu geben weiß, also wenn er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort ist offenbar Ein- heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succession, hier Coexistenz.
Harmonie ist auch in der Melodie, aber nur in der Unter- ordnung unter Rhythmus (das Plastische). Hier ist von Harmo- nie die Rede, inwiefern sie die Unterordnung unter Rhythmus aus- schließt, inwiefern sie selbst das Ganze ist, untergeordnet der zweiten Dimension.
Harmonie kommt zwar in verschiedenen Bedeutungen bei den Theo- retikern vor, so daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange- schlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird also Har- monie in der höchsten Einfachheit aufgefaßt, in welcher sie z. B. auch eine Eigenschaft des einzelnen Klangs ist, da in diesem zugleich mehrere und von ihm verschiedene Töne mitklingen, die aber so genau vereinigt sind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Diese selbige Vielheit in der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen Tonstücks, so besteht Harmonie darin, daß in jedem dieser Momente
§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter die andere entgegen. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner- kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend- lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz, aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale Einheit — ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein- ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit (Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein- heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier Coexiſtenz.
Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter- ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo- nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus- ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das Ganze iſt, untergeordnet der zweiten Dimenſion.
Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo- retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange- ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har- monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0174"n="498"/><p>§. 82. <hirendition="#g">Der Melodie, welche die Unterordnung der<lb/>
drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die<lb/>
Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter<lb/>
die andere entgegen</hi>. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der<lb/>
Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner-<lb/>
kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend-<lb/>
lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls<lb/>
Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz,<lb/>
aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale<lb/>
Einheit —ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von<lb/>
einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein-<lb/>ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang<lb/>ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im<lb/>
Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit<lb/>
(Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn<lb/>
er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein<lb/>
wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein-<lb/>
heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier<lb/>
Coexiſtenz.</p><lb/><p>Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter-<lb/>
ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo-<lb/>
nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus-<lb/>ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das <hirendition="#g">Ganze</hi> iſt, untergeordnet der zweiten<lb/>
Dimenſion.</p><lb/><p>Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo-<lb/>
retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange-<lb/>ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har-<lb/>
monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch<lb/>
eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere<lb/>
und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt<lb/>ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in<lb/>
der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen<lb/>
Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[498/0174]
§. 82. Der Melodie, welche die Unterordnung der
drei Einheiten der Muſik unter die erſte iſt, ſteht die
Harmonie als die Unterordnung der drei Einheiten unter
die andere entgegen. — Die Harmonie als ein Gegenſatz der
Melodie iſt allgemein auch bei den bloß empiriſchen Theoretikern aner-
kannt. Melodie iſt in der Muſik die abſolute Einbildung des Unend-
lichen ins Endliche, alſo die ganze Einheit. Harmonie iſt gleichfalls
Muſik, inſofern nicht minder Einbildung der Identität in die Differenz,
aber dieſe Einheit wird hier durch die entgegengeſetzte — die ideale
Einheit — ſymboliſirt. Im gemeinen Sprachgebrauch ſagt man von
einem Tonkünſtler, daß er die Melodie verſtehe, wenn er einen ein-
ſtimmigen durch Rhythmus und Modulation ausgezeichneten Geſang
ſetzen kann, daß er Harmonie, wenn er der Identität, welche im
Rhythmus in die Differenz aufgenommen wird, auch noch Breitheit
(Ausdehnung nach der zweiten Dimenſion) zu geben weiß, alſo wenn
er mehrere Stimmen, deren jede ihre eigne Melodie hat, in ein
wohlklingendes Ganzes zu vereinigen weiß. Dort iſt offenbar Ein-
heit in Vielheit, hier Vielheit in Einheit, dort Succeſſion, hier
Coexiſtenz.
Harmonie iſt auch in der Melodie, aber nur in der Unter-
ordnung unter Rhythmus (das Plaſtiſche). Hier iſt von Harmo-
nie die Rede, inwiefern ſie die Unterordnung unter Rhythmus aus-
ſchließt, inwiefern ſie ſelbſt das Ganze iſt, untergeordnet der zweiten
Dimenſion.
Harmonie kommt zwar in verſchiedenen Bedeutungen bei den Theo-
retikern vor, ſo daß es z. B. die Vereinigung vieler zugleich ange-
ſchlagenen Töne in einen einzigen Klang bedeutet; hier wird alſo Har-
monie in der höchſten Einfachheit aufgefaßt, in welcher ſie z. B. auch
eine Eigenſchaft des einzelnen Klangs iſt, da in dieſem zugleich mehrere
und von ihm verſchiedene Töne mitklingen, die aber ſo genau vereinigt
ſind, daß man nur Einen zu hören glaubt. Dieſe ſelbige Vielheit in
der Einheit nun angewendet auf die größeren Momente eines ganzen
Tonſtücks, ſo beſteht Harmonie darin, daß in jedem dieſer Momente
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/174>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.