Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Verschiedenheit der Urtheile über den Vorzug der Harmonie
und Melodie sind so wenig zu vereinigen, als die über antike und mo-
derne Kunst überhaupt. Rousseau nennt jene eine gothische, barbarische
Erfindung; dagegen gibt es Enthusiasten der Harmonie, die erst von
der Erfindung des Contrapunkts an wahre Musik datiren. Dieß wird
freilich allein dadurch hinlänglich widerlegt, daß die Alten eine Musik
von so großer Kraft ohne alle Kenntniß oder wenigstens Gebrauch der
Harmonie hatten. Die meisten sind der Meinung, daß der vielstimmige
Gesang gar erst im zwölften Jahrhundert erfunden.

§. 83. Die Formen der Musik sind Formen der ewigen
Dinge, inwiefern sie von der realen Seite
betrachtet werden.
-- Denn die reale Seite der ewigen Dinge ist die, von welcher das
Unendliche ihrem Endlichen eingeboren ist. Aber diese selbe Einbildung
des Unendlichen in das Endliche ist auch die Form der Musik, und da
die Formen der Kunst überhaupt die Formen der Dinge an sich sind,
so sind die Formen der Musik nothwendig Formen der Dinge an sich
oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet.

Da dieß nun allgemein bewiesen ist, so gilt es auch von den be-
sonderen Formen der Musik, von Rhythmus und Harmonie, nämlich
daß sie Formen der ewigen Dinge ausdrücken, sofern diese ganz von
der Seite ihrer Besonderheit betrachtet werden. Inwiefern dann ferner
die ewigen Dinge oder die Ideen von der realen Seite in den Welt-
körpern offenbar werden, so sind die Formen der Musik als Formen
der real betrachteten Ideen auch Formen des Seyns und des Lebens der
Weltkörper als solcher, demnach die Musik nichts anderes als der vernom-
mene Rhythmus und die Harmonie des sichtbaren Universums selbst.

Verschiedene Anmerkungen.

1) Allgemein geht die Philosophie, wie die Kunst, nicht auf die
Dinge selbst, sondern nur auf ihre Formen oder ewigen Wesenheiten.
Das Ding selbst ist aber eben nichts anderes als diese Art oder Form
zu seyn, und durch die Formen besitzt man die Dinge. Die Kunst be-
strebt sich z. B. in ihren plastischen Werken nicht, mit den ähnlichen
Hervorbringungen der Natur, was das Reelle betrifft, zu wetteifern.

Die Verſchiedenheit der Urtheile über den Vorzug der Harmonie
und Melodie ſind ſo wenig zu vereinigen, als die über antike und mo-
derne Kunſt überhaupt. Rouſſeau nennt jene eine gothiſche, barbariſche
Erfindung; dagegen gibt es Enthuſiaſten der Harmonie, die erſt von
der Erfindung des Contrapunkts an wahre Muſik datiren. Dieß wird
freilich allein dadurch hinlänglich widerlegt, daß die Alten eine Muſik
von ſo großer Kraft ohne alle Kenntniß oder wenigſtens Gebrauch der
Harmonie hatten. Die meiſten ſind der Meinung, daß der vielſtimmige
Geſang gar erſt im zwölften Jahrhundert erfunden.

§. 83. Die Formen der Muſik ſind Formen der ewigen
Dinge, inwiefern ſie von der realen Seite
betrachtet werden.
— Denn die reale Seite der ewigen Dinge iſt die, von welcher das
Unendliche ihrem Endlichen eingeboren iſt. Aber dieſe ſelbe Einbildung
des Unendlichen in das Endliche iſt auch die Form der Muſik, und da
die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der Dinge an ſich ſind,
ſo ſind die Formen der Muſik nothwendig Formen der Dinge an ſich
oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet.

Da dieß nun allgemein bewieſen iſt, ſo gilt es auch von den be-
ſonderen Formen der Muſik, von Rhythmus und Harmonie, nämlich
daß ſie Formen der ewigen Dinge ausdrücken, ſofern dieſe ganz von
der Seite ihrer Beſonderheit betrachtet werden. Inwiefern dann ferner
die ewigen Dinge oder die Ideen von der realen Seite in den Welt-
körpern offenbar werden, ſo ſind die Formen der Muſik als Formen
der real betrachteten Ideen auch Formen des Seyns und des Lebens der
Weltkörper als ſolcher, demnach die Muſik nichts anderes als der vernom-
mene Rhythmus und die Harmonie des ſichtbaren Univerſums ſelbſt.

Verſchiedene Anmerkungen.

1) Allgemein geht die Philoſophie, wie die Kunſt, nicht auf die
Dinge ſelbſt, ſondern nur auf ihre Formen oder ewigen Weſenheiten.
Das Ding ſelbſt iſt aber eben nichts anderes als dieſe Art oder Form
zu ſeyn, und durch die Formen beſitzt man die Dinge. Die Kunſt be-
ſtrebt ſich z. B. in ihren plaſtiſchen Werken nicht, mit den ähnlichen
Hervorbringungen der Natur, was das Reelle betrifft, zu wetteifern.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0177" n="501"/>
            <p>Die Ver&#x017F;chiedenheit der Urtheile über den Vorzug der Harmonie<lb/>
und Melodie &#x017F;ind &#x017F;o wenig zu vereinigen, als die über antike und mo-<lb/>
derne Kun&#x017F;t überhaupt. Rou&#x017F;&#x017F;eau nennt jene eine gothi&#x017F;che, barbari&#x017F;che<lb/>
Erfindung; dagegen gibt es Enthu&#x017F;ia&#x017F;ten der Harmonie, die er&#x017F;t von<lb/>
der Erfindung des Contrapunkts an wahre Mu&#x017F;ik datiren. Dieß wird<lb/>
freilich allein dadurch hinlänglich widerlegt, daß die Alten eine Mu&#x017F;ik<lb/>
von &#x017F;o großer Kraft ohne alle Kenntniß oder wenig&#x017F;tens Gebrauch der<lb/>
Harmonie hatten. Die mei&#x017F;ten &#x017F;ind der Meinung, daß der viel&#x017F;timmige<lb/>
Ge&#x017F;ang gar er&#x017F;t im zwölften Jahrhundert erfunden.</p><lb/>
            <p>§. 83. <hi rendition="#g">Die Formen der Mu&#x017F;ik &#x017F;ind Formen der ewigen<lb/>
Dinge, inwiefern &#x017F;ie von der realen Seite</hi> betrachtet werden.<lb/>
&#x2014; Denn die reale Seite der ewigen Dinge i&#x017F;t die, von welcher das<lb/>
Unendliche ihrem Endlichen eingeboren i&#x017F;t. Aber die&#x017F;e &#x017F;elbe Einbildung<lb/>
des Unendlichen in das Endliche i&#x017F;t auch die Form der Mu&#x017F;ik, und da<lb/>
die Formen der Kun&#x017F;t überhaupt die Formen der Dinge an &#x017F;ich &#x017F;ind,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ind die Formen der Mu&#x017F;ik nothwendig Formen der Dinge an &#x017F;ich<lb/>
oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet.</p><lb/>
            <p>Da dieß nun allgemein bewie&#x017F;en i&#x017F;t, &#x017F;o gilt es auch von den be-<lb/>
&#x017F;onderen Formen der Mu&#x017F;ik, von Rhythmus und Harmonie, nämlich<lb/>
daß &#x017F;ie Formen der ewigen Dinge ausdrücken, &#x017F;ofern die&#x017F;e ganz von<lb/>
der Seite ihrer Be&#x017F;onderheit betrachtet werden. Inwiefern dann ferner<lb/>
die ewigen Dinge oder die Ideen von der realen Seite in den Welt-<lb/>
körpern offenbar werden, &#x017F;o &#x017F;ind die Formen der Mu&#x017F;ik als Formen<lb/>
der real betrachteten Ideen auch Formen des Seyns und des Lebens der<lb/>
Weltkörper als &#x017F;olcher, demnach die Mu&#x017F;ik nichts anderes als der vernom-<lb/>
mene Rhythmus und die Harmonie des &#x017F;ichtbaren Univer&#x017F;ums &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Ver&#x017F;chiedene Anmerkungen</hi>.</p><lb/>
            <p>1) Allgemein geht die Philo&#x017F;ophie, wie die Kun&#x017F;t, nicht auf die<lb/>
Dinge &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ondern nur auf ihre Formen oder ewigen We&#x017F;enheiten.<lb/>
Das Ding &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t aber eben nichts anderes als die&#x017F;e Art oder Form<lb/>
zu &#x017F;eyn, und durch die Formen be&#x017F;itzt man die Dinge. Die Kun&#x017F;t be-<lb/>
&#x017F;trebt &#x017F;ich z. B. in ihren pla&#x017F;ti&#x017F;chen Werken nicht, mit den ähnlichen<lb/>
Hervorbringungen der Natur, was das Reelle betrifft, zu wetteifern.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[501/0177] Die Verſchiedenheit der Urtheile über den Vorzug der Harmonie und Melodie ſind ſo wenig zu vereinigen, als die über antike und mo- derne Kunſt überhaupt. Rouſſeau nennt jene eine gothiſche, barbariſche Erfindung; dagegen gibt es Enthuſiaſten der Harmonie, die erſt von der Erfindung des Contrapunkts an wahre Muſik datiren. Dieß wird freilich allein dadurch hinlänglich widerlegt, daß die Alten eine Muſik von ſo großer Kraft ohne alle Kenntniß oder wenigſtens Gebrauch der Harmonie hatten. Die meiſten ſind der Meinung, daß der vielſtimmige Geſang gar erſt im zwölften Jahrhundert erfunden. §. 83. Die Formen der Muſik ſind Formen der ewigen Dinge, inwiefern ſie von der realen Seite betrachtet werden. — Denn die reale Seite der ewigen Dinge iſt die, von welcher das Unendliche ihrem Endlichen eingeboren iſt. Aber dieſe ſelbe Einbildung des Unendlichen in das Endliche iſt auch die Form der Muſik, und da die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der Dinge an ſich ſind, ſo ſind die Formen der Muſik nothwendig Formen der Dinge an ſich oder der Ideen ganz von ihrer realen Seite betrachtet. Da dieß nun allgemein bewieſen iſt, ſo gilt es auch von den be- ſonderen Formen der Muſik, von Rhythmus und Harmonie, nämlich daß ſie Formen der ewigen Dinge ausdrücken, ſofern dieſe ganz von der Seite ihrer Beſonderheit betrachtet werden. Inwiefern dann ferner die ewigen Dinge oder die Ideen von der realen Seite in den Welt- körpern offenbar werden, ſo ſind die Formen der Muſik als Formen der real betrachteten Ideen auch Formen des Seyns und des Lebens der Weltkörper als ſolcher, demnach die Muſik nichts anderes als der vernom- mene Rhythmus und die Harmonie des ſichtbaren Univerſums ſelbſt. Verſchiedene Anmerkungen. 1) Allgemein geht die Philoſophie, wie die Kunſt, nicht auf die Dinge ſelbſt, ſondern nur auf ihre Formen oder ewigen Weſenheiten. Das Ding ſelbſt iſt aber eben nichts anderes als dieſe Art oder Form zu ſeyn, und durch die Formen beſitzt man die Dinge. Die Kunſt be- ſtrebt ſich z. B. in ihren plaſtiſchen Werken nicht, mit den ähnlichen Hervorbringungen der Natur, was das Reelle betrifft, zu wetteifern.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/177
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/177>, abgerufen am 21.11.2024.