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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Sie sucht die bloße Form, das Ideale, von welchem aber das Ding
selbst doch wieder nur die andere Ansicht ist. Dieß angewendet auf den
vorliegenden Fall, so bringt die Musik die Form der Bewegungen der
Weltkörper, die reine, von dem Gegenstand oder Stoff befreite Form
in dem Rhythmus und der Harmonie als solche zur Anschauung. Die
Musik ist insofern diejenige Kunst, die am meisten das Körperliche ab-
streift, indem sie die reine Bewegung selbst als solche, von dem Ge-
genstand abgezogen, vorstellt und von unsichtbaren, fast geistigen Flügeln
getragen wird.

2) Bekanntlich war der erste Urheber dieser Ansicht der himmlischen
Bewegungen als Rhythmus und Musik Pythagoras, aber ebenso be-
kannt ist, wie wenig seine Ideen verstanden worden sind, und man
kann sehr leicht schließen, wie verdorben sie auch zu uns gekommen sind.
Man hat des Pythagoras Lehre von der Musik der Sphären gewöhn-
lich ganz grob verstanden, nämlich in dem Sinn, daß so große Körper
in ihren schnellen Bewegungen einen Schall verursachen müssen,
der, weil sie mit verschiedener, jedoch abgemessener Geschwindigkeit
und in immer ausgedehnteren Kreisen rotiren, eine zusammenklin-
gende, nach musikalischen Tonverhältnissen geordnete Harmonie erzeuge,
so daß das Sonnensystem einer siebenfach besaiteten Leyer gleiche. In
dieser Vorstellung war die ganze Sache empirisch genommen. Pythago-
ras sagt nicht, daß diese Bewegungen eine Musik verursachen, son-
dern, daß sie es selbst seyen. Diese inwohnende Bewegung bedurfte
keines äußeren Mediums, wodurch sie Musik wurde, sie war es in sich
selbst. Als man nachher den Raum zwischen den Himmelskörpern leer
machte, oder höchstens ein sehr zartes und feines Medium darin zugeben
wollte, gegen welches keine Reibung stattfand, und das auch den erreg-
ten Schall nicht aufnehmen oder in sich fortpflanzen konnte, so glaubte
man damit diese Vorstellung abgethan zu haben, die man noch gar nicht
erreicht hatte. Wie man es gewöhnlich darstellt, hat Pythagoras gesagt,
man könne jene Musik wegen ihrer zu großen Gewalt, und weil sie
beständig sey, nicht vernehmen, ungefähr so, wie Menschen, die in
einer Mühle wohnen. Wahrscheinlich ist dieß gerad' umgekehrt zu

Sie ſucht die bloße Form, das Ideale, von welchem aber das Ding
ſelbſt doch wieder nur die andere Anſicht iſt. Dieß angewendet auf den
vorliegenden Fall, ſo bringt die Muſik die Form der Bewegungen der
Weltkörper, die reine, von dem Gegenſtand oder Stoff befreite Form
in dem Rhythmus und der Harmonie als ſolche zur Anſchauung. Die
Muſik iſt inſofern diejenige Kunſt, die am meiſten das Körperliche ab-
ſtreift, indem ſie die reine Bewegung ſelbſt als ſolche, von dem Ge-
genſtand abgezogen, vorſtellt und von unſichtbaren, faſt geiſtigen Flügeln
getragen wird.

2) Bekanntlich war der erſte Urheber dieſer Anſicht der himmliſchen
Bewegungen als Rhythmus und Muſik Pythagoras, aber ebenſo be-
kannt iſt, wie wenig ſeine Ideen verſtanden worden ſind, und man
kann ſehr leicht ſchließen, wie verdorben ſie auch zu uns gekommen ſind.
Man hat des Pythagoras Lehre von der Muſik der Sphären gewöhn-
lich ganz grob verſtanden, nämlich in dem Sinn, daß ſo große Körper
in ihren ſchnellen Bewegungen einen Schall verurſachen müſſen,
der, weil ſie mit verſchiedener, jedoch abgemeſſener Geſchwindigkeit
und in immer ausgedehnteren Kreiſen rotiren, eine zuſammenklin-
gende, nach muſikaliſchen Tonverhältniſſen geordnete Harmonie erzeuge,
ſo daß das Sonnenſyſtem einer ſiebenfach beſaiteten Leyer gleiche. In
dieſer Vorſtellung war die ganze Sache empiriſch genommen. Pythago-
ras ſagt nicht, daß dieſe Bewegungen eine Muſik verurſachen, ſon-
dern, daß ſie es ſelbſt ſeyen. Dieſe inwohnende Bewegung bedurfte
keines äußeren Mediums, wodurch ſie Muſik wurde, ſie war es in ſich
ſelbſt. Als man nachher den Raum zwiſchen den Himmelskörpern leer
machte, oder höchſtens ein ſehr zartes und feines Medium darin zugeben
wollte, gegen welches keine Reibung ſtattfand, und das auch den erreg-
ten Schall nicht aufnehmen oder in ſich fortpflanzen konnte, ſo glaubte
man damit dieſe Vorſtellung abgethan zu haben, die man noch gar nicht
erreicht hatte. Wie man es gewöhnlich darſtellt, hat Pythagoras geſagt,
man könne jene Muſik wegen ihrer zu großen Gewalt, und weil ſie
beſtändig ſey, nicht vernehmen, ungefähr ſo, wie Menſchen, die in
einer Mühle wohnen. Wahrſcheinlich iſt dieß gerad’ umgekehrt zu

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[502/0178] Sie ſucht die bloße Form, das Ideale, von welchem aber das Ding ſelbſt doch wieder nur die andere Anſicht iſt. Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, ſo bringt die Muſik die Form der Bewegungen der Weltkörper, die reine, von dem Gegenſtand oder Stoff befreite Form in dem Rhythmus und der Harmonie als ſolche zur Anſchauung. Die Muſik iſt inſofern diejenige Kunſt, die am meiſten das Körperliche ab- ſtreift, indem ſie die reine Bewegung ſelbſt als ſolche, von dem Ge- genſtand abgezogen, vorſtellt und von unſichtbaren, faſt geiſtigen Flügeln getragen wird. 2) Bekanntlich war der erſte Urheber dieſer Anſicht der himmliſchen Bewegungen als Rhythmus und Muſik Pythagoras, aber ebenſo be- kannt iſt, wie wenig ſeine Ideen verſtanden worden ſind, und man kann ſehr leicht ſchließen, wie verdorben ſie auch zu uns gekommen ſind. Man hat des Pythagoras Lehre von der Muſik der Sphären gewöhn- lich ganz grob verſtanden, nämlich in dem Sinn, daß ſo große Körper in ihren ſchnellen Bewegungen einen Schall verurſachen müſſen, der, weil ſie mit verſchiedener, jedoch abgemeſſener Geſchwindigkeit und in immer ausgedehnteren Kreiſen rotiren, eine zuſammenklin- gende, nach muſikaliſchen Tonverhältniſſen geordnete Harmonie erzeuge, ſo daß das Sonnenſyſtem einer ſiebenfach beſaiteten Leyer gleiche. In dieſer Vorſtellung war die ganze Sache empiriſch genommen. Pythago- ras ſagt nicht, daß dieſe Bewegungen eine Muſik verurſachen, ſon- dern, daß ſie es ſelbſt ſeyen. Dieſe inwohnende Bewegung bedurfte keines äußeren Mediums, wodurch ſie Muſik wurde, ſie war es in ſich ſelbſt. Als man nachher den Raum zwiſchen den Himmelskörpern leer machte, oder höchſtens ein ſehr zartes und feines Medium darin zugeben wollte, gegen welches keine Reibung ſtattfand, und das auch den erreg- ten Schall nicht aufnehmen oder in ſich fortpflanzen konnte, ſo glaubte man damit dieſe Vorſtellung abgethan zu haben, die man noch gar nicht erreicht hatte. Wie man es gewöhnlich darſtellt, hat Pythagoras geſagt, man könne jene Muſik wegen ihrer zu großen Gewalt, und weil ſie beſtändig ſey, nicht vernehmen, ungefähr ſo, wie Menſchen, die in einer Mühle wohnen. Wahrſcheinlich iſt dieß gerad’ umgekehrt zu

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/178>, abgerufen am 21.11.2024.