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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Die Bedeutung der Zahlen ist auch in der Zusammensetzung der
Gruppen unverkennbar. Obgleich man die Freiheit hat, sie aus gera-
den und ungeraden Zahlen zusammenzusetzen, so sind doch die doppelt
geraden, z. B. 4, 8, 12 etc., davon ausgeschlossen, und nur die aus un-
geraden zusammengesetzten, z. B. 6, 10, 14 etc., erträglich, obgleich die
ungeraden immer die vorzüglicheren sind.

Sonst wird noch als Regel der Gruppirung aufgestellt, daß die
Gruppe die verhältnißmäßige Tiefe habe, daß also die Figuren nicht
nach einer Reihe gestellt seyen, oder wenigstens nicht die äußersten
Theile, wie die Köpfe, einander in geraden, horizontalen, senkrechten
oder schiefen Linien begegnen. Allein diese Regel hat ihre vornehmste
Beziehung auf die Spiele und Zufälligkeiten des Helldunkels, um nämlich
diese desto leichter hervorbringen zu können. In der Zeichnung an und
für sich, welche die reale Form der Kunst ist und nicht auf Illusion
geht, ist diese Regel sehr untergeordnet (Beispiele der Alten, Raphaels).

Zur Anschauung jeder dieser besondern Formen will ich nun das-
jenige Individuum herausnehmen, welches am ausgezeichnetsten darin.

Wenn man von Zeichnung rein als solcher sprechen will, so muß
man Michel Angelo nennen. Er bewies seine tiefe Kenntniß schon
in einem der frühsten Werke, einem Carton, den man nur noch durch
Benvenuto kennt (Beschreibung eines Ueberfalls nackter Krieger im
Arno). Michel Angelos Styl ist groß, ja schrecklich durch seine Wahr-
heit. Der Tiefsinn eines reichen und durchaus unabhängigen Geistes,
die stolze Zuversicht auf sich selbst, der verschlossene Ernst der Ge-
müthsart, Hang zur Einsamkeit sind in seinen Werken abgedrückt;
ebenso bezeugen sie sein tiefes Studium der Anatomie, dem er zwölf
Jahre lang oblag, und das er immer wieder bis ins hohe Alter vor-
nahm, wodurch er in den verborgensten Mechanismus des menschlichen
Körpers eindrang. Seine Gestalten sind nicht zarte, weichliche, son-
dern kräftige, starke und trotzige Gestalten (wie bei Dante). Beispiel:
sein jüngstes Gericht.

So viel also von der Zeichnung als der realen Form innerhalb
der Malerei als der idealen Kunst.

Die Bedeutung der Zahlen iſt auch in der Zuſammenſetzung der
Gruppen unverkennbar. Obgleich man die Freiheit hat, ſie aus gera-
den und ungeraden Zahlen zuſammenzuſetzen, ſo ſind doch die doppelt
geraden, z. B. 4, 8, 12 ꝛc., davon ausgeſchloſſen, und nur die aus un-
geraden zuſammengeſetzten, z. B. 6, 10, 14 ꝛc., erträglich, obgleich die
ungeraden immer die vorzüglicheren ſind.

Sonſt wird noch als Regel der Gruppirung aufgeſtellt, daß die
Gruppe die verhältnißmäßige Tiefe habe, daß alſo die Figuren nicht
nach einer Reihe geſtellt ſeyen, oder wenigſtens nicht die äußerſten
Theile, wie die Köpfe, einander in geraden, horizontalen, ſenkrechten
oder ſchiefen Linien begegnen. Allein dieſe Regel hat ihre vornehmſte
Beziehung auf die Spiele und Zufälligkeiten des Helldunkels, um nämlich
dieſe deſto leichter hervorbringen zu können. In der Zeichnung an und
für ſich, welche die reale Form der Kunſt iſt und nicht auf Illuſion
geht, iſt dieſe Regel ſehr untergeordnet (Beiſpiele der Alten, Raphaels).

Zur Anſchauung jeder dieſer beſondern Formen will ich nun das-
jenige Individuum herausnehmen, welches am ausgezeichnetſten darin.

Wenn man von Zeichnung rein als ſolcher ſprechen will, ſo muß
man Michel Angelo nennen. Er bewies ſeine tiefe Kenntniß ſchon
in einem der frühſten Werke, einem Carton, den man nur noch durch
Benvenuto kennt (Beſchreibung eines Ueberfalls nackter Krieger im
Arno). Michel Angelos Styl iſt groß, ja ſchrecklich durch ſeine Wahr-
heit. Der Tiefſinn eines reichen und durchaus unabhängigen Geiſtes,
die ſtolze Zuverſicht auf ſich ſelbſt, der verſchloſſene Ernſt der Ge-
müthsart, Hang zur Einſamkeit ſind in ſeinen Werken abgedrückt;
ebenſo bezeugen ſie ſein tiefes Studium der Anatomie, dem er zwölf
Jahre lang oblag, und das er immer wieder bis ins hohe Alter vor-
nahm, wodurch er in den verborgenſten Mechanismus des menſchlichen
Körpers eindrang. Seine Geſtalten ſind nicht zarte, weichliche, ſon-
dern kräftige, ſtarke und trotzige Geſtalten (wie bei Dante). Beiſpiel:
ſein jüngſtes Gericht.

So viel alſo von der Zeichnung als der realen Form innerhalb
der Malerei als der idealen Kunſt.

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[530/0206] Die Bedeutung der Zahlen iſt auch in der Zuſammenſetzung der Gruppen unverkennbar. Obgleich man die Freiheit hat, ſie aus gera- den und ungeraden Zahlen zuſammenzuſetzen, ſo ſind doch die doppelt geraden, z. B. 4, 8, 12 ꝛc., davon ausgeſchloſſen, und nur die aus un- geraden zuſammengeſetzten, z. B. 6, 10, 14 ꝛc., erträglich, obgleich die ungeraden immer die vorzüglicheren ſind. Sonſt wird noch als Regel der Gruppirung aufgeſtellt, daß die Gruppe die verhältnißmäßige Tiefe habe, daß alſo die Figuren nicht nach einer Reihe geſtellt ſeyen, oder wenigſtens nicht die äußerſten Theile, wie die Köpfe, einander in geraden, horizontalen, ſenkrechten oder ſchiefen Linien begegnen. Allein dieſe Regel hat ihre vornehmſte Beziehung auf die Spiele und Zufälligkeiten des Helldunkels, um nämlich dieſe deſto leichter hervorbringen zu können. In der Zeichnung an und für ſich, welche die reale Form der Kunſt iſt und nicht auf Illuſion geht, iſt dieſe Regel ſehr untergeordnet (Beiſpiele der Alten, Raphaels). Zur Anſchauung jeder dieſer beſondern Formen will ich nun das- jenige Individuum herausnehmen, welches am ausgezeichnetſten darin. Wenn man von Zeichnung rein als ſolcher ſprechen will, ſo muß man Michel Angelo nennen. Er bewies ſeine tiefe Kenntniß ſchon in einem der frühſten Werke, einem Carton, den man nur noch durch Benvenuto kennt (Beſchreibung eines Ueberfalls nackter Krieger im Arno). Michel Angelos Styl iſt groß, ja ſchrecklich durch ſeine Wahr- heit. Der Tiefſinn eines reichen und durchaus unabhängigen Geiſtes, die ſtolze Zuverſicht auf ſich ſelbſt, der verſchloſſene Ernſt der Ge- müthsart, Hang zur Einſamkeit ſind in ſeinen Werken abgedrückt; ebenſo bezeugen ſie ſein tiefes Studium der Anatomie, dem er zwölf Jahre lang oblag, und das er immer wieder bis ins hohe Alter vor- nahm, wodurch er in den verborgenſten Mechanismus des menſchlichen Körpers eindrang. Seine Geſtalten ſind nicht zarte, weichliche, ſon- dern kräftige, ſtarke und trotzige Geſtalten (wie bei Dante). Beiſpiel: ſein jüngſtes Gericht. So viel alſo von der Zeichnung als der realen Form innerhalb der Malerei als der idealen Kunſt.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/206>, abgerufen am 21.11.2024.