Die ganz ideale Form der Malerei ist das Helldunkel. Da- mit ergreift die Kunst den ganzen Schein des Körperlichen, und stellt ihn, abgehoben von dem Stoffe, als Schein und für sich dar.
Das Helldunkel macht den Körper als Körper erscheinen, weil Licht und Schatten uns von der Dichtigkeit belehrt. Das natürlichste Beispiel ist die Kugel; um aber Kunstwirkungen hervorzubringen, muß sie in Flächen verwandelt werden, damit die Theile der Schatten- und Lichtseite sich mehr in sich selbst absondern. Am vollkommensten wird es durch den Cubus vorgestellt, von dessen drei gesehenen Seiten die eine das Licht, die andere die Mitteltinte und die dritte den Schatten abgesondert und nebeneinander, also flächenhaft, vorstellt. Schon aus diesem einfachsten Beispiel erhellt, daß das Helldunkel nicht allein in schwarz und weiß besteht, sondern daß die Wirkung desselben auch durch hellere und dunklere Farben erreichbar ist. Allein auch dieß ist noch nicht zureichend einen vollständigen Begriff davon zu geben, da es eben der Gebrauch dieser Farben ist, der das Helldunkel macht.
Ich will nur einiges vom natürlichen Helldunkel auführen, d. h. von dem, was schon die bloße Anschauung der natürlichen Körper vom Helldunkel lehrt.
Vom Unterschied der Fläche und Tiefe urtheilt unser Auge schon einfach dadurch, daß von einer Oberfläche die erhabenen Theile das Licht auf ganz andere Art, nämlich unter einem anderen Winkel, zurückzuwerfen scheinen als die flachen und tiefen Theile. Wenn also das Auge schnell von einem großen auf einen kleinen Winkel oder um- gekehrt fortgeleitet wird, so wird der Gegenstand als unterbrochen oder abgeschnitten, und jene unmerkbare Gradation von Licht und Schatten, welche das Helldunkel macht, würde zerstört erscheinen. Es ist die Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß es in der Natur fast keinen vollkommenen Winkel gibt, und die meisten Winkel kleine krumme Linien sind, die sich in zwei sich ausbreitende Linien verlieren. Es ist die Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß der Contur der Körper selten mit einer wirklich lichten, sondern mit einer Mittelfarbe erscheint, denn wäre der Contur in hohem Grade erleuchtet, so würde damit die
Die ganz ideale Form der Malerei iſt das Helldunkel. Da- mit ergreift die Kunſt den ganzen Schein des Körperlichen, und ſtellt ihn, abgehoben von dem Stoffe, als Schein und für ſich dar.
Das Helldunkel macht den Körper als Körper erſcheinen, weil Licht und Schatten uns von der Dichtigkeit belehrt. Das natürlichſte Beiſpiel iſt die Kugel; um aber Kunſtwirkungen hervorzubringen, muß ſie in Flächen verwandelt werden, damit die Theile der Schatten- und Lichtſeite ſich mehr in ſich ſelbſt abſondern. Am vollkommenſten wird es durch den Cubus vorgeſtellt, von deſſen drei geſehenen Seiten die eine das Licht, die andere die Mitteltinte und die dritte den Schatten abgeſondert und nebeneinander, alſo flächenhaft, vorſtellt. Schon aus dieſem einfachſten Beiſpiel erhellt, daß das Helldunkel nicht allein in ſchwarz und weiß beſteht, ſondern daß die Wirkung deſſelben auch durch hellere und dunklere Farben erreichbar iſt. Allein auch dieß iſt noch nicht zureichend einen vollſtändigen Begriff davon zu geben, da es eben der Gebrauch dieſer Farben iſt, der das Helldunkel macht.
Ich will nur einiges vom natürlichen Helldunkel auführen, d. h. von dem, was ſchon die bloße Anſchauung der natürlichen Körper vom Helldunkel lehrt.
Vom Unterſchied der Fläche und Tiefe urtheilt unſer Auge ſchon einfach dadurch, daß von einer Oberfläche die erhabenen Theile das Licht auf ganz andere Art, nämlich unter einem anderen Winkel, zurückzuwerfen ſcheinen als die flachen und tiefen Theile. Wenn alſo das Auge ſchnell von einem großen auf einen kleinen Winkel oder um- gekehrt fortgeleitet wird, ſo wird der Gegenſtand als unterbrochen oder abgeſchnitten, und jene unmerkbare Gradation von Licht und Schatten, welche das Helldunkel macht, würde zerſtört erſcheinen. Es iſt die Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß es in der Natur faſt keinen vollkommenen Winkel gibt, und die meiſten Winkel kleine krumme Linien ſind, die ſich in zwei ſich ausbreitende Linien verlieren. Es iſt die Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß der Contur der Körper ſelten mit einer wirklich lichten, ſondern mit einer Mittelfarbe erſcheint, denn wäre der Contur in hohem Grade erleuchtet, ſo würde damit die
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Die ganz ideale Form der Malerei iſt das Helldunkel. Da-
mit ergreift die Kunſt den ganzen Schein des Körperlichen, und ſtellt
ihn, abgehoben von dem Stoffe, als Schein und für ſich dar.
Das Helldunkel macht den Körper als Körper erſcheinen, weil
Licht und Schatten uns von der Dichtigkeit belehrt. Das natürlichſte
Beiſpiel iſt die Kugel; um aber Kunſtwirkungen hervorzubringen, muß
ſie in Flächen verwandelt werden, damit die Theile der Schatten-
und Lichtſeite ſich mehr in ſich ſelbſt abſondern. Am vollkommenſten
wird es durch den Cubus vorgeſtellt, von deſſen drei geſehenen Seiten
die eine das Licht, die andere die Mitteltinte und die dritte den
Schatten abgeſondert und nebeneinander, alſo flächenhaft, vorſtellt.
Schon aus dieſem einfachſten Beiſpiel erhellt, daß das Helldunkel nicht
allein in ſchwarz und weiß beſteht, ſondern daß die Wirkung deſſelben
auch durch hellere und dunklere Farben erreichbar iſt. Allein auch dieß
iſt noch nicht zureichend einen vollſtändigen Begriff davon zu geben,
da es eben der Gebrauch dieſer Farben iſt, der das Helldunkel macht.
Ich will nur einiges vom natürlichen Helldunkel auführen,
d. h. von dem, was ſchon die bloße Anſchauung der natürlichen Körper
vom Helldunkel lehrt.
Vom Unterſchied der Fläche und Tiefe urtheilt unſer Auge
ſchon einfach dadurch, daß von einer Oberfläche die erhabenen Theile
das Licht auf ganz andere Art, nämlich unter einem anderen Winkel,
zurückzuwerfen ſcheinen als die flachen und tiefen Theile. Wenn alſo
das Auge ſchnell von einem großen auf einen kleinen Winkel oder um-
gekehrt fortgeleitet wird, ſo wird der Gegenſtand als unterbrochen oder
abgeſchnitten, und jene unmerkbare Gradation von Licht und Schatten,
welche das Helldunkel macht, würde zerſtört erſcheinen. Es iſt die
Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß es in der Natur faſt keinen
vollkommenen Winkel gibt, und die meiſten Winkel kleine krumme Linien
ſind, die ſich in zwei ſich ausbreitende Linien verlieren. Es iſt die
Wirkung des natürlichen Helldunkels, daß der Contur der Körper
ſelten mit einer wirklich lichten, ſondern mit einer Mittelfarbe erſcheint,
denn wäre der Contur in hohem Grade erleuchtet, ſo würde damit die
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/207>, abgerufen am 21.11.2024.
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