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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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uns diesen Instinkt noch ganz roh, indem in ihr sogar die Pflanzenwelt
unverändert durch die Kunst zum Vorbild wird. Es bedarf bloß des
Anblicks der ächten Werke gothischer Baukunst, um in allen Formen
derselben die unveränderten Formen der Pflanze zu erkennen. Was
das Hauptauszeichnende derselben betrifft, die zum Verhältniß des Um-
fangs und der Höhe schmale Basis, so haben wir uns ein gothisches
Gebäude, z. B. einen Thurm, wie das Münster zu Straßburg u. a.
als einen ungeheuren Baum vorzustellen, der von einem verhältniß-
mäßig schmalen Stamm aus sich in eine unermeßliche Krone verbreitet,
die ihre Aeste und Zweige nach allen Seiten in die Lüfte streckt. Die
Menge kleinerer, auf dem Hauptstamm angebrachter Gebäude, die
Nebenthürmchen u. s. w., durch welche das Gebäude von allen Seiten
nach der Breite sich ausdehnt, sind nur Darstellungen dieser Aeste und
Zweige, eines gleichsam selbst zu einer Stadt gewordenen Baumes,
sowie das überall angebrachte und gehäufte Laubwerk unmittelbarer auf
dieses Urbild hindeutet. Die Nebengebäude, welche näher an der Erde
den ächt-gothischen Werken zugegeben werden, wie die Nebenkapellen an
den Kirchen, deuten die Wurzel an, welche dieser große Baum unten
um sich verbreitet. Alle Eigenheiten der gothischen Baukunst drücken
diese Beziehung aus, z. B. die sogenannten Kreuzgänge in Klöstern,
welche eine Reihe von Bäumen vorstellen, deren Zweige oben gegen
einander geneigt und in einander verwachsen sind, und auf diese Weise
ein Gewölbe bilden.

Ich bemerke nur zur Geschichte der gothischen Baukunst, daß es
ein offenbarer Irrthum ist, die Gothen als die Urheber des nach ihnen
genannten Geschmacks und als diejenigen zu bezeichnen, die diese Form
der Architektur nach Italien gebracht. Die Gothen, als ein ganz krie-
gerisches Volk, brachten weder Architekten noch andere Künstler mit sich
nach Italien, und als sie sich dort niederließen, bedienten sie sich der
einheimischen Künstler. Nur war unter diesen selbst der Geschmack
schon im Verfall, und die Gothen strebten sogar dieß zu verhindern,
indem ihre Fürsten das Kunsttalent offenbar aufmunterten und die
Kunstausübung begünstigten. Die jetzt gewöhnliche Meinung ist, daß

uns dieſen Inſtinkt noch ganz roh, indem in ihr ſogar die Pflanzenwelt
unverändert durch die Kunſt zum Vorbild wird. Es bedarf bloß des
Anblicks der ächten Werke gothiſcher Baukunſt, um in allen Formen
derſelben die unveränderten Formen der Pflanze zu erkennen. Was
das Hauptauszeichnende derſelben betrifft, die zum Verhältniß des Um-
fangs und der Höhe ſchmale Baſis, ſo haben wir uns ein gothiſches
Gebäude, z. B. einen Thurm, wie das Münſter zu Straßburg u. a.
als einen ungeheuren Baum vorzuſtellen, der von einem verhältniß-
mäßig ſchmalen Stamm aus ſich in eine unermeßliche Krone verbreitet,
die ihre Aeſte und Zweige nach allen Seiten in die Lüfte ſtreckt. Die
Menge kleinerer, auf dem Hauptſtamm angebrachter Gebäude, die
Nebenthürmchen u. ſ. w., durch welche das Gebäude von allen Seiten
nach der Breite ſich ausdehnt, ſind nur Darſtellungen dieſer Aeſte und
Zweige, eines gleichſam ſelbſt zu einer Stadt gewordenen Baumes,
ſowie das überall angebrachte und gehäufte Laubwerk unmittelbarer auf
dieſes Urbild hindeutet. Die Nebengebäude, welche näher an der Erde
den ächt-gothiſchen Werken zugegeben werden, wie die Nebenkapellen an
den Kirchen, deuten die Wurzel an, welche dieſer große Baum unten
um ſich verbreitet. Alle Eigenheiten der gothiſchen Baukunſt drücken
dieſe Beziehung aus, z. B. die ſogenannten Kreuzgänge in Klöſtern,
welche eine Reihe von Bäumen vorſtellen, deren Zweige oben gegen
einander geneigt und in einander verwachſen ſind, und auf dieſe Weiſe
ein Gewölbe bilden.

Ich bemerke nur zur Geſchichte der gothiſchen Baukunſt, daß es
ein offenbarer Irrthum iſt, die Gothen als die Urheber des nach ihnen
genannten Geſchmacks und als diejenigen zu bezeichnen, die dieſe Form
der Architektur nach Italien gebracht. Die Gothen, als ein ganz krie-
geriſches Volk, brachten weder Architekten noch andere Künſtler mit ſich
nach Italien, und als ſie ſich dort niederließen, bedienten ſie ſich der
einheimiſchen Künſtler. Nur war unter dieſen ſelbſt der Geſchmack
ſchon im Verfall, und die Gothen ſtrebten ſogar dieß zu verhindern,
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[584/0260] uns dieſen Inſtinkt noch ganz roh, indem in ihr ſogar die Pflanzenwelt unverändert durch die Kunſt zum Vorbild wird. Es bedarf bloß des Anblicks der ächten Werke gothiſcher Baukunſt, um in allen Formen derſelben die unveränderten Formen der Pflanze zu erkennen. Was das Hauptauszeichnende derſelben betrifft, die zum Verhältniß des Um- fangs und der Höhe ſchmale Baſis, ſo haben wir uns ein gothiſches Gebäude, z. B. einen Thurm, wie das Münſter zu Straßburg u. a. als einen ungeheuren Baum vorzuſtellen, der von einem verhältniß- mäßig ſchmalen Stamm aus ſich in eine unermeßliche Krone verbreitet, die ihre Aeſte und Zweige nach allen Seiten in die Lüfte ſtreckt. Die Menge kleinerer, auf dem Hauptſtamm angebrachter Gebäude, die Nebenthürmchen u. ſ. w., durch welche das Gebäude von allen Seiten nach der Breite ſich ausdehnt, ſind nur Darſtellungen dieſer Aeſte und Zweige, eines gleichſam ſelbſt zu einer Stadt gewordenen Baumes, ſowie das überall angebrachte und gehäufte Laubwerk unmittelbarer auf dieſes Urbild hindeutet. Die Nebengebäude, welche näher an der Erde den ächt-gothiſchen Werken zugegeben werden, wie die Nebenkapellen an den Kirchen, deuten die Wurzel an, welche dieſer große Baum unten um ſich verbreitet. Alle Eigenheiten der gothiſchen Baukunſt drücken dieſe Beziehung aus, z. B. die ſogenannten Kreuzgänge in Klöſtern, welche eine Reihe von Bäumen vorſtellen, deren Zweige oben gegen einander geneigt und in einander verwachſen ſind, und auf dieſe Weiſe ein Gewölbe bilden. Ich bemerke nur zur Geſchichte der gothiſchen Baukunſt, daß es ein offenbarer Irrthum iſt, die Gothen als die Urheber des nach ihnen genannten Geſchmacks und als diejenigen zu bezeichnen, die dieſe Form der Architektur nach Italien gebracht. Die Gothen, als ein ganz krie- geriſches Volk, brachten weder Architekten noch andere Künſtler mit ſich nach Italien, und als ſie ſich dort niederließen, bedienten ſie ſich der einheimiſchen Künſtler. Nur war unter dieſen ſelbſt der Geſchmack ſchon im Verfall, und die Gothen ſtrebten ſogar dieß zu verhindern, indem ihre Fürſten das Kunſttalent offenbar aufmunterten und die Kunſtausübung begünſtigten. Die jetzt gewöhnliche Meinung iſt, daß

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/260>, abgerufen am 21.11.2024.