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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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die Saracenen diese Baukunst mit nach dem Abendland und zwar zuerst
nach Spanien gebracht, von wo aus sie sich über Europa verbreitet.
Man beruft sich unter anderem darauf, daß diese Baukunst die eines
sehr heißen Himmelstrichs seyn mußte, in welchem man Schatten und
Kühle zu suchen hatte. Allein man könnte diesen Grund auch um-
kehren und die gothische Baukunst für viel einheimischer halten. Wenn
Tacitus von den alten Germanen sagt, daß sie keine Tempel gehabt,
sondern im Freien unter Bäumen die Götter verehrt, und wenn Deutsch-
land in den ältesten Zeiten ganz mit Wäldern bedeckt war, so läßt sich
denken, daß auch beim ersten Anfang der Civilisation in der Bauart,
vorzüglich der Tempel, die Deutschen das alte Vorbild ihrer Wälder
nachgeahmt haben, daß auf diese Weise die gothische Baukunst in Deutsch-
land ursprünglich heimisch war, und von da aus sich vorzüglich nach
Holland und England verpflanzte, wo z. B. das Schloß in Windsor
in diesem Styl gebaut ist, und wo sich die reinsten Werke desselben
finden, indem anderwärts, z. B. in Italien, er nur gemischt mit dem
neueren italienischen existirte. Dieß sind verschiedene Möglichkeiten, über
welche nur aus historischen Gründen entschieden werden kann. Ein
solcher scheint mir aber wirklich vorhanden zu seyn, da die Ursprünge
der gothischen Baukunst noch weiter zurückreichen. Es ist nämlich eine
verwundernswerthe und in die Augen springende Aehnlichkeit, welche
die indische Bauart mit der gothischen zeigt. Sicher kann diese Bemer-
kung niemand entgehen, der etwa die Zeichnungen indischer Landschaften
und Gebäude von Hodges gesehen hat. Die Architektur der Tempel
und Pagoden ist ganz gothischer Art; selbst gemeinen Gebäuden fehlen
die gothischen Pfeiler und die spitzigen Thürmchen nicht. Das Laubwerk
als architektonische Verzierung ist ohnehin orientalischen Ursprungs.
Der ausschweifende Geschmack der Orientalen, der überall das Be-
grenzte meidet und auf das Unbegrenzte geht, blickt unverkennbar durch
die gothische Baukunst hindurch, und diese wird im Kolossalen noch von
der indischen Architektur übertroffen, welche Gebäude, die einzeln dem
Umfang einer großen Stadt gleichen, ebenso wie die riesenhafteste
Vegetation der Erde aufzuweisen hat. Wie dieser ursprünglich indische

die Saracenen dieſe Baukunſt mit nach dem Abendland und zwar zuerſt
nach Spanien gebracht, von wo aus ſie ſich über Europa verbreitet.
Man beruft ſich unter anderem darauf, daß dieſe Baukunſt die eines
ſehr heißen Himmelſtrichs ſeyn mußte, in welchem man Schatten und
Kühle zu ſuchen hatte. Allein man könnte dieſen Grund auch um-
kehren und die gothiſche Baukunſt für viel einheimiſcher halten. Wenn
Tacitus von den alten Germanen ſagt, daß ſie keine Tempel gehabt,
ſondern im Freien unter Bäumen die Götter verehrt, und wenn Deutſch-
land in den älteſten Zeiten ganz mit Wäldern bedeckt war, ſo läßt ſich
denken, daß auch beim erſten Anfang der Civiliſation in der Bauart,
vorzüglich der Tempel, die Deutſchen das alte Vorbild ihrer Wälder
nachgeahmt haben, daß auf dieſe Weiſe die gothiſche Baukunſt in Deutſch-
land urſprünglich heimiſch war, und von da aus ſich vorzüglich nach
Holland und England verpflanzte, wo z. B. das Schloß in Windſor
in dieſem Styl gebaut iſt, und wo ſich die reinſten Werke deſſelben
finden, indem anderwärts, z. B. in Italien, er nur gemiſcht mit dem
neueren italieniſchen exiſtirte. Dieß ſind verſchiedene Möglichkeiten, über
welche nur aus hiſtoriſchen Gründen entſchieden werden kann. Ein
ſolcher ſcheint mir aber wirklich vorhanden zu ſeyn, da die Urſprünge
der gothiſchen Baukunſt noch weiter zurückreichen. Es iſt nämlich eine
verwundernswerthe und in die Augen ſpringende Aehnlichkeit, welche
die indiſche Bauart mit der gothiſchen zeigt. Sicher kann dieſe Bemer-
kung niemand entgehen, der etwa die Zeichnungen indiſcher Landſchaften
und Gebäude von Hodges geſehen hat. Die Architektur der Tempel
und Pagoden iſt ganz gothiſcher Art; ſelbſt gemeinen Gebäuden fehlen
die gothiſchen Pfeiler und die ſpitzigen Thürmchen nicht. Das Laubwerk
als architektoniſche Verzierung iſt ohnehin orientaliſchen Urſprungs.
Der ausſchweifende Geſchmack der Orientalen, der überall das Be-
grenzte meidet und auf das Unbegrenzte geht, blickt unverkennbar durch
die gothiſche Baukunſt hindurch, und dieſe wird im Koloſſalen noch von
der indiſchen Architektur übertroffen, welche Gebäude, die einzeln dem
Umfang einer großen Stadt gleichen, ebenſo wie die rieſenhafteſte
Vegetation der Erde aufzuweiſen hat. Wie dieſer urſprünglich indiſche

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[585/0261] die Saracenen dieſe Baukunſt mit nach dem Abendland und zwar zuerſt nach Spanien gebracht, von wo aus ſie ſich über Europa verbreitet. Man beruft ſich unter anderem darauf, daß dieſe Baukunſt die eines ſehr heißen Himmelſtrichs ſeyn mußte, in welchem man Schatten und Kühle zu ſuchen hatte. Allein man könnte dieſen Grund auch um- kehren und die gothiſche Baukunſt für viel einheimiſcher halten. Wenn Tacitus von den alten Germanen ſagt, daß ſie keine Tempel gehabt, ſondern im Freien unter Bäumen die Götter verehrt, und wenn Deutſch- land in den älteſten Zeiten ganz mit Wäldern bedeckt war, ſo läßt ſich denken, daß auch beim erſten Anfang der Civiliſation in der Bauart, vorzüglich der Tempel, die Deutſchen das alte Vorbild ihrer Wälder nachgeahmt haben, daß auf dieſe Weiſe die gothiſche Baukunſt in Deutſch- land urſprünglich heimiſch war, und von da aus ſich vorzüglich nach Holland und England verpflanzte, wo z. B. das Schloß in Windſor in dieſem Styl gebaut iſt, und wo ſich die reinſten Werke deſſelben finden, indem anderwärts, z. B. in Italien, er nur gemiſcht mit dem neueren italieniſchen exiſtirte. Dieß ſind verſchiedene Möglichkeiten, über welche nur aus hiſtoriſchen Gründen entſchieden werden kann. Ein ſolcher ſcheint mir aber wirklich vorhanden zu ſeyn, da die Urſprünge der gothiſchen Baukunſt noch weiter zurückreichen. Es iſt nämlich eine verwundernswerthe und in die Augen ſpringende Aehnlichkeit, welche die indiſche Bauart mit der gothiſchen zeigt. Sicher kann dieſe Bemer- kung niemand entgehen, der etwa die Zeichnungen indiſcher Landſchaften und Gebäude von Hodges geſehen hat. Die Architektur der Tempel und Pagoden iſt ganz gothiſcher Art; ſelbſt gemeinen Gebäuden fehlen die gothiſchen Pfeiler und die ſpitzigen Thürmchen nicht. Das Laubwerk als architektoniſche Verzierung iſt ohnehin orientaliſchen Urſprungs. Der ausſchweifende Geſchmack der Orientalen, der überall das Be- grenzte meidet und auf das Unbegrenzte geht, blickt unverkennbar durch die gothiſche Baukunſt hindurch, und dieſe wird im Koloſſalen noch von der indiſchen Architektur übertroffen, welche Gebäude, die einzeln dem Umfang einer großen Stadt gleichen, ebenſo wie die rieſenhafteſte Vegetation der Erde aufzuweiſen hat. Wie dieſer urſprünglich indiſche

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/261>, abgerufen am 22.11.2024.