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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Geschmack sich nachher über Europa verbreitet habe, die Beantwortung
dieser Frage muß ich dem Historiker überlassen.

Auf eine andere Weise hat sich der kolossale Geschmack in der
Baukunst in Aegypten ausgedrückt. Die ewig unveränderliche Gestalt
des Himmels, die gleichförmigen Bewegungen der Natur trieben dieses
Volk selbst gegen das Feste, das Unveränderliche hin, ein Sinn, der
sich in ihren Pyramiden verewigt hat, sowie nach allem, was wir
wissen, eben dieser aufs Unwandelbare gerichtete Sinn die Aegypter
verhindert hat, jemals anders als mit Stein zu bauen. Daher die
cubische Form aller ihrer Werke; die leichtere und rundere Form, deren
Vorbild die Architektur von Bäumen und den zur ersten Bauart mit
Holz gebrauchten Baumstämmen entlehnt hat, konnte bei ihnen nicht
entstehen.

Wir gehen zu der höheren Nachbildung der Pflanzenform in der
edleren Architektur fort.

Die gothische Baukunst ist ganz naturalistisch, roh, bloße unmittel-
bare Nachahmung der Natur, in der nichts an absichtliche und freie
Kunst erinnert. Die erste noch rohe dorische Säule, welche einen be-
hauenen Stamm vorstellt, erhebt mich schon auf das Gebiet der Kunst,
indem sie mir die mechanische Bearbeitung durch freie Kunst nachge-
ahmt, diese also als über das Bedürfniß und die Nothwendigkeit er-
haben, auf das Schöne und Bedeutende an sich gerichtet zeigt. Der
angegebene Ursprung der dorischen Säule und die Umkehrung des Ge-
schmacks, der die rohe Natur nachahmt, drückt sich in ihrer Form aus.
Der gothische Geschmack muß, weil er den Baum ungeformt darstellt,
die Basis verengen und den obern Theil ausdehnen. Die dorische
Säule ist, wie der behauene Stamm, nach unten breiter und verjüngt
sich nach oben. Die Pflanze ist hier schon zur Allegorie des Thierreichs
gemacht, eben weil der rohe Erguß der Natur in ihr aufgehoben und
damit angedeutet ist, daß sie nicht um ihrer selbst willen, sondern um
ein anderes zu bedeuten da sey. Die Kunst spricht hier die Natur voll-
kommener aus und verbessert sie gleichsam. Sie nimmt das Ueber-
fließende und das bloß zur Individualität Gehörige hinweg, und läßt

Geſchmack ſich nachher über Europa verbreitet habe, die Beantwortung
dieſer Frage muß ich dem Hiſtoriker überlaſſen.

Auf eine andere Weiſe hat ſich der koloſſale Geſchmack in der
Baukunſt in Aegypten ausgedrückt. Die ewig unveränderliche Geſtalt
des Himmels, die gleichförmigen Bewegungen der Natur trieben dieſes
Volk ſelbſt gegen das Feſte, das Unveränderliche hin, ein Sinn, der
ſich in ihren Pyramiden verewigt hat, ſowie nach allem, was wir
wiſſen, eben dieſer aufs Unwandelbare gerichtete Sinn die Aegypter
verhindert hat, jemals anders als mit Stein zu bauen. Daher die
cubiſche Form aller ihrer Werke; die leichtere und rundere Form, deren
Vorbild die Architektur von Bäumen und den zur erſten Bauart mit
Holz gebrauchten Baumſtämmen entlehnt hat, konnte bei ihnen nicht
entſtehen.

Wir gehen zu der höheren Nachbildung der Pflanzenform in der
edleren Architektur fort.

Die gothiſche Baukunſt iſt ganz naturaliſtiſch, roh, bloße unmittel-
bare Nachahmung der Natur, in der nichts an abſichtliche und freie
Kunſt erinnert. Die erſte noch rohe doriſche Säule, welche einen be-
hauenen Stamm vorſtellt, erhebt mich ſchon auf das Gebiet der Kunſt,
indem ſie mir die mechaniſche Bearbeitung durch freie Kunſt nachge-
ahmt, dieſe alſo als über das Bedürfniß und die Nothwendigkeit er-
haben, auf das Schöne und Bedeutende an ſich gerichtet zeigt. Der
angegebene Urſprung der doriſchen Säule und die Umkehrung des Ge-
ſchmacks, der die rohe Natur nachahmt, drückt ſich in ihrer Form aus.
Der gothiſche Geſchmack muß, weil er den Baum ungeformt darſtellt,
die Baſis verengen und den obern Theil ausdehnen. Die doriſche
Säule iſt, wie der behauene Stamm, nach unten breiter und verjüngt
ſich nach oben. Die Pflanze iſt hier ſchon zur Allegorie des Thierreichs
gemacht, eben weil der rohe Erguß der Natur in ihr aufgehoben und
damit angedeutet iſt, daß ſie nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern um
ein anderes zu bedeuten da ſey. Die Kunſt ſpricht hier die Natur voll-
kommener aus und verbeſſert ſie gleichſam. Sie nimmt das Ueber-
fließende und das bloß zur Individualität Gehörige hinweg, und läßt

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[586/0262] Geſchmack ſich nachher über Europa verbreitet habe, die Beantwortung dieſer Frage muß ich dem Hiſtoriker überlaſſen. Auf eine andere Weiſe hat ſich der koloſſale Geſchmack in der Baukunſt in Aegypten ausgedrückt. Die ewig unveränderliche Geſtalt des Himmels, die gleichförmigen Bewegungen der Natur trieben dieſes Volk ſelbſt gegen das Feſte, das Unveränderliche hin, ein Sinn, der ſich in ihren Pyramiden verewigt hat, ſowie nach allem, was wir wiſſen, eben dieſer aufs Unwandelbare gerichtete Sinn die Aegypter verhindert hat, jemals anders als mit Stein zu bauen. Daher die cubiſche Form aller ihrer Werke; die leichtere und rundere Form, deren Vorbild die Architektur von Bäumen und den zur erſten Bauart mit Holz gebrauchten Baumſtämmen entlehnt hat, konnte bei ihnen nicht entſtehen. Wir gehen zu der höheren Nachbildung der Pflanzenform in der edleren Architektur fort. Die gothiſche Baukunſt iſt ganz naturaliſtiſch, roh, bloße unmittel- bare Nachahmung der Natur, in der nichts an abſichtliche und freie Kunſt erinnert. Die erſte noch rohe doriſche Säule, welche einen be- hauenen Stamm vorſtellt, erhebt mich ſchon auf das Gebiet der Kunſt, indem ſie mir die mechaniſche Bearbeitung durch freie Kunſt nachge- ahmt, dieſe alſo als über das Bedürfniß und die Nothwendigkeit er- haben, auf das Schöne und Bedeutende an ſich gerichtet zeigt. Der angegebene Urſprung der doriſchen Säule und die Umkehrung des Ge- ſchmacks, der die rohe Natur nachahmt, drückt ſich in ihrer Form aus. Der gothiſche Geſchmack muß, weil er den Baum ungeformt darſtellt, die Baſis verengen und den obern Theil ausdehnen. Die doriſche Säule iſt, wie der behauene Stamm, nach unten breiter und verjüngt ſich nach oben. Die Pflanze iſt hier ſchon zur Allegorie des Thierreichs gemacht, eben weil der rohe Erguß der Natur in ihr aufgehoben und damit angedeutet iſt, daß ſie nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern um ein anderes zu bedeuten da ſey. Die Kunſt ſpricht hier die Natur voll- kommener aus und verbeſſert ſie gleichſam. Sie nimmt das Ueber- fließende und das bloß zur Individualität Gehörige hinweg, und läßt

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/262>, abgerufen am 21.11.2024.