erfunden, sowie ferner die Kannelirungen die Falten weiblicher Kleider vorstellen.
Daß die Proportionen der dorischen und jonischen Ordnung, jene wirklich mehr denen des gedrungenen männlichen Körpers, diese mehr denen des weiblichen Körpers nahe kommen, ist offenbar (da auch wirklich männliche Schönheit rhythmisch, weibliche harmonisch), obgleich diese Analogie von Vitruvius zu weit ausgedehnt worden ist. So haben die Schneckenwindungen des jonischen Knaufs nach meinem Bedünken eine allgemeinere Nothwendigkeit in sich als die der Nachahmung eines zufälligen Kopfschmucks, welches ohne Zweifel eine bloße Vermuthung des Vitruvius ist. Offenbar drücken diese Windungen die Präformation des Organischen im Anorgischen aus; sie sind wie die Versteinerungen der Erde Anspielungen auf das Organische, und wie diese in dem Verhältniß als sie der thierischen Form analoger werden, mehr auf den jüngeren Gebirgen und näher der Oberfläche erst gefunden werden, so bildet auch die anorgische Masse der Säule erst auf der Grenze, die sie mit dem höheren Gebilde macht, sich in Formen, die Vorbe- deutungen des Lebendigen sind.
Die dorische Säule verjüngt sich, wie schon bemerkt, nach oben in einer geraden Linie -- hier die Länge, die Starrheit, der Rhythmus herrschend --, die jonische nach einer Curve, welche die harmonische Form auch in der Malerei ist. Sie ist also selbst im rhythmischen Theil mehr harmonisch.
Von den unendlich schönen Proportionen dieser Ordnung, die in ihrer Art wieder so vollkommen sind, als die der andern in der ihri- gen -- daß man es einem deutschen Baumeister nicht übel nehmen kann, der es sogar für unmöglich hielt, daß sie menschliche Erfindungen seyen, und sie daher unmittelbar von Gott eingegeben glaubte -- von diesen Proportionen der jonischen Ordnung will ich nur die ihres Säu- lenfußes oder der sogenannten Attica anführen, welche durch die Höhe ihrer Glieder, wie sie Vitruvius angibt, die vollkommenste Harmonie, nämlich den harmonischen Dreiklang ausdrückt.
§. 118. Der melodische Theil der Architektur entsteht
erfunden, ſowie ferner die Kannelirungen die Falten weiblicher Kleider vorſtellen.
Daß die Proportionen der doriſchen und joniſchen Ordnung, jene wirklich mehr denen des gedrungenen männlichen Körpers, dieſe mehr denen des weiblichen Körpers nahe kommen, iſt offenbar (da auch wirklich männliche Schönheit rhythmiſch, weibliche harmoniſch), obgleich dieſe Analogie von Vitruvius zu weit ausgedehnt worden iſt. So haben die Schneckenwindungen des joniſchen Knaufs nach meinem Bedünken eine allgemeinere Nothwendigkeit in ſich als die der Nachahmung eines zufälligen Kopfſchmucks, welches ohne Zweifel eine bloße Vermuthung des Vitruvius iſt. Offenbar drücken dieſe Windungen die Präformation des Organiſchen im Anorgiſchen aus; ſie ſind wie die Verſteinerungen der Erde Anſpielungen auf das Organiſche, und wie dieſe in dem Verhältniß als ſie der thieriſchen Form analoger werden, mehr auf den jüngeren Gebirgen und näher der Oberfläche erſt gefunden werden, ſo bildet auch die anorgiſche Maſſe der Säule erſt auf der Grenze, die ſie mit dem höheren Gebilde macht, ſich in Formen, die Vorbe- deutungen des Lebendigen ſind.
Die doriſche Säule verjüngt ſich, wie ſchon bemerkt, nach oben in einer geraden Linie — hier die Länge, die Starrheit, der Rhythmus herrſchend —, die joniſche nach einer Curve, welche die harmoniſche Form auch in der Malerei iſt. Sie iſt alſo ſelbſt im rhythmiſchen Theil mehr harmoniſch.
Von den unendlich ſchönen Proportionen dieſer Ordnung, die in ihrer Art wieder ſo vollkommen ſind, als die der andern in der ihri- gen — daß man es einem deutſchen Baumeiſter nicht übel nehmen kann, der es ſogar für unmöglich hielt, daß ſie menſchliche Erfindungen ſeyen, und ſie daher unmittelbar von Gott eingegeben glaubte — von dieſen Proportionen der joniſchen Ordnung will ich nur die ihres Säu- lenfußes oder der ſogenannten Attica anführen, welche durch die Höhe ihrer Glieder, wie ſie Vitruvius angibt, die vollkommenſte Harmonie, nämlich den harmoniſchen Dreiklang ausdrückt.
§. 118. Der melodiſche Theil der Architektur entſteht
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erfunden, ſowie ferner die Kannelirungen die Falten weiblicher Kleider
vorſtellen.
Daß die Proportionen der doriſchen und joniſchen Ordnung,
jene wirklich mehr denen des gedrungenen männlichen Körpers, dieſe
mehr denen des weiblichen Körpers nahe kommen, iſt offenbar (da auch
wirklich männliche Schönheit rhythmiſch, weibliche harmoniſch), obgleich
dieſe Analogie von Vitruvius zu weit ausgedehnt worden iſt. So haben
die Schneckenwindungen des joniſchen Knaufs nach meinem Bedünken
eine allgemeinere Nothwendigkeit in ſich als die der Nachahmung eines
zufälligen Kopfſchmucks, welches ohne Zweifel eine bloße Vermuthung
des Vitruvius iſt. Offenbar drücken dieſe Windungen die Präformation
des Organiſchen im Anorgiſchen aus; ſie ſind wie die Verſteinerungen
der Erde Anſpielungen auf das Organiſche, und wie dieſe in dem
Verhältniß als ſie der thieriſchen Form analoger werden, mehr auf
den jüngeren Gebirgen und näher der Oberfläche erſt gefunden werden,
ſo bildet auch die anorgiſche Maſſe der Säule erſt auf der Grenze,
die ſie mit dem höheren Gebilde macht, ſich in Formen, die Vorbe-
deutungen des Lebendigen ſind.
Die doriſche Säule verjüngt ſich, wie ſchon bemerkt, nach oben in
einer geraden Linie — hier die Länge, die Starrheit, der Rhythmus
herrſchend —, die joniſche nach einer Curve, welche die harmoniſche
Form auch in der Malerei iſt. Sie iſt alſo ſelbſt im rhythmiſchen
Theil mehr harmoniſch.
Von den unendlich ſchönen Proportionen dieſer Ordnung, die in
ihrer Art wieder ſo vollkommen ſind, als die der andern in der ihri-
gen — daß man es einem deutſchen Baumeiſter nicht übel nehmen
kann, der es ſogar für unmöglich hielt, daß ſie menſchliche Erfindungen
ſeyen, und ſie daher unmittelbar von Gott eingegeben glaubte — von
dieſen Proportionen der joniſchen Ordnung will ich nur die ihres Säu-
lenfußes oder der ſogenannten Attica anführen, welche durch die Höhe
ihrer Glieder, wie ſie Vitruvius angibt, die vollkommenſte Harmonie,
nämlich den harmoniſchen Dreiklang ausdrückt.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/272>, abgerufen am 22.11.2024.
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