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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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-- beträufelt mit blutigen Tropfen die Erde
Ehrend den theuren Sohn -- -- -- -- -- -- 1

Noch viel weniger ist den Helden der Ilias irgend ein Gefühl oder
Widerstreit gegen das Schicksal verliehen, und das Epos stellt sich auf
diese Weise höchst bedeutend zwischen die zwei andern Gattungen, das
lyrische Gedicht, wo der bloße Streit des Unendlichen und Endlichen,
die Dissonanz der Freiheit und Nothwendigkeit ohne vollständige und
andere als subjektive Auflösung herrscht, und die Tragödie, wo der
Streit und das Schicksal zugleich dargestellt ist. Die Identität, die in
dem Epos noch verhüllt und als milde Gewalt herrschte, entladet sich
da, wo ihr der Streit gegenüber steht, in herben und gewaltigen
Schlägen. Die Tragödie kann insofern allerdings als Synthese des
Lyrischen und Epischen betrachtet werden, da die Identität des Letzteren
in ihr durch den Gegensatz selbst sich in das Schicksal verwandelt. Das
Epos, verglichen mit der Tragödie, ist also ohne Streit gegen das
Unendliche, aber auch schicksallos.

2) Das Handeln ist in seinem An-sich zeitlos, denn alle Zeit
ist nur Differenz der Möglichkeit und Wirklichkeit, und alles erscheinende
Handeln ist nur Zerlegung jener Identität, in der alles zumal ist.
Das Epos muß ein Bild dieser Zeitlosigkeit seyn. Wie ist dies mög-
lich? -- Die Poesie ist als Rede selbst an die Zeit gebunden, alle
poetische Darstellung nothwendig successiv. Hier scheint also ein unauf-
löslicher Widerspruch zu seyn. Er hebt sich auf folgende Art. Die
Poesie selbst als solche muß wie außer der Zeit, von der Zeit unberührt
seyn, sie muß daher alle Zeit, alles Successive rein in den Gegenstand
legen und dadurch sich selbst ruhig erhalten und unbewegt von dem
Strom der Aufeinanderfolge über ihm schweben. So ist in dem An-
sich
alles Handelns, an dessen Stelle die Poesie tritt, keine Zeit, nur
in den Gegenständen als solchen ist sie, und jede Idee, indem sie aus
dem An-sich als Gegenstand hervortritt, tritt in die Zeit ein. Das
Epos selbst also muß das Ruhige und dagegen der Gegenstand das
Bewegte seyn. -- Man denke sich einmal die Umkehrung, nämlich daß

1 Vgl. über diese Stelle Phil. der Mythologie S. 360. D. H.
— beträufelt mit blutigen Tropfen die Erde
Ehrend den theuren Sohn — — — — — — 1

Noch viel weniger iſt den Helden der Ilias irgend ein Gefühl oder
Widerſtreit gegen das Schickſal verliehen, und das Epos ſtellt ſich auf
dieſe Weiſe höchſt bedeutend zwiſchen die zwei andern Gattungen, das
lyriſche Gedicht, wo der bloße Streit des Unendlichen und Endlichen,
die Diſſonanz der Freiheit und Nothwendigkeit ohne vollſtändige und
andere als ſubjektive Auflöſung herrſcht, und die Tragödie, wo der
Streit und das Schickſal zugleich dargeſtellt iſt. Die Identität, die in
dem Epos noch verhüllt und als milde Gewalt herrſchte, entladet ſich
da, wo ihr der Streit gegenüber ſteht, in herben und gewaltigen
Schlägen. Die Tragödie kann inſofern allerdings als Syntheſe des
Lyriſchen und Epiſchen betrachtet werden, da die Identität des Letzteren
in ihr durch den Gegenſatz ſelbſt ſich in das Schickſal verwandelt. Das
Epos, verglichen mit der Tragödie, iſt alſo ohne Streit gegen das
Unendliche, aber auch ſchickſallos.

2) Das Handeln iſt in ſeinem An-ſich zeitlos, denn alle Zeit
iſt nur Differenz der Möglichkeit und Wirklichkeit, und alles erſcheinende
Handeln iſt nur Zerlegung jener Identität, in der alles zumal iſt.
Das Epos muß ein Bild dieſer Zeitloſigkeit ſeyn. Wie iſt dies mög-
lich? — Die Poeſie iſt als Rede ſelbſt an die Zeit gebunden, alle
poetiſche Darſtellung nothwendig ſucceſſiv. Hier ſcheint alſo ein unauf-
löslicher Widerſpruch zu ſeyn. Er hebt ſich auf folgende Art. Die
Poeſie ſelbſt als ſolche muß wie außer der Zeit, von der Zeit unberührt
ſeyn, ſie muß daher alle Zeit, alles Succeſſive rein in den Gegenſtand
legen und dadurch ſich ſelbſt ruhig erhalten und unbewegt von dem
Strom der Aufeinanderfolge über ihm ſchweben. So iſt in dem An-
ſich
alles Handelns, an deſſen Stelle die Poeſie tritt, keine Zeit, nur
in den Gegenſtänden als ſolchen iſt ſie, und jede Idee, indem ſie aus
dem An-ſich als Gegenſtand hervortritt, tritt in die Zeit ein. Das
Epos ſelbſt alſo muß das Ruhige und dagegen der Gegenſtand das
Bewegte ſeyn. — Man denke ſich einmal die Umkehrung, nämlich daß

1 Vgl. über dieſe Stelle Phil. der Mythologie S. 360. D. H.
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[648/0324] — beträufelt mit blutigen Tropfen die Erde Ehrend den theuren Sohn — — — — — — 1 Noch viel weniger iſt den Helden der Ilias irgend ein Gefühl oder Widerſtreit gegen das Schickſal verliehen, und das Epos ſtellt ſich auf dieſe Weiſe höchſt bedeutend zwiſchen die zwei andern Gattungen, das lyriſche Gedicht, wo der bloße Streit des Unendlichen und Endlichen, die Diſſonanz der Freiheit und Nothwendigkeit ohne vollſtändige und andere als ſubjektive Auflöſung herrſcht, und die Tragödie, wo der Streit und das Schickſal zugleich dargeſtellt iſt. Die Identität, die in dem Epos noch verhüllt und als milde Gewalt herrſchte, entladet ſich da, wo ihr der Streit gegenüber ſteht, in herben und gewaltigen Schlägen. Die Tragödie kann inſofern allerdings als Syntheſe des Lyriſchen und Epiſchen betrachtet werden, da die Identität des Letzteren in ihr durch den Gegenſatz ſelbſt ſich in das Schickſal verwandelt. Das Epos, verglichen mit der Tragödie, iſt alſo ohne Streit gegen das Unendliche, aber auch ſchickſallos. 2) Das Handeln iſt in ſeinem An-ſich zeitlos, denn alle Zeit iſt nur Differenz der Möglichkeit und Wirklichkeit, und alles erſcheinende Handeln iſt nur Zerlegung jener Identität, in der alles zumal iſt. Das Epos muß ein Bild dieſer Zeitloſigkeit ſeyn. Wie iſt dies mög- lich? — Die Poeſie iſt als Rede ſelbſt an die Zeit gebunden, alle poetiſche Darſtellung nothwendig ſucceſſiv. Hier ſcheint alſo ein unauf- löslicher Widerſpruch zu ſeyn. Er hebt ſich auf folgende Art. Die Poeſie ſelbſt als ſolche muß wie außer der Zeit, von der Zeit unberührt ſeyn, ſie muß daher alle Zeit, alles Succeſſive rein in den Gegenſtand legen und dadurch ſich ſelbſt ruhig erhalten und unbewegt von dem Strom der Aufeinanderfolge über ihm ſchweben. So iſt in dem An- ſich alles Handelns, an deſſen Stelle die Poeſie tritt, keine Zeit, nur in den Gegenſtänden als ſolchen iſt ſie, und jede Idee, indem ſie aus dem An-ſich als Gegenſtand hervortritt, tritt in die Zeit ein. Das Epos ſelbſt alſo muß das Ruhige und dagegen der Gegenſtand das Bewegte ſeyn. — Man denke ſich einmal die Umkehrung, nämlich daß 1 Vgl. über dieſe Stelle Phil. der Mythologie S. 360. D. H.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 648. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/324>, abgerufen am 08.06.2024.