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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Es ist höchst auffallend, wenn man das homerische Epos selbst
mit den frühesten Werken der lyrischen Poesie vergleicht, in ihm durchaus
keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln
der Menschen bewegt sich von der einen Seite betrachtet in der reinen
Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der absoluten Identität der
Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe
verschließt, ist noch nicht gebrochen, nirgends ist Empörung gegen das
Schicksal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil diese selbst nicht über- und
außernatürlich sind, sondern mit in den Kreis menschlicher Begebenheiten
fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer schon die schwarzen
Keren und das Verhängniß kenne, dem selbst Zeus und die andern
Götter unterworfen sind. Dieß ist wahr, aber das Verhängniß er-
scheint
eben deßwegen noch nicht als Schicksal, weil kein Widerstreit
dagegen erscheint. Götter und Menschen, die ganze Welt, die das
Epos umfaßt, sind in der höchsten Identität mit ihm dargestellt. Aeußerst
bedeutend ist in dieser Rücksicht die Stelle im 16. Gesang der Ilias, 1
wo Zeus seinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und
vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:

Einen sterblichen Mann längst auserseh'n dem Verhängniß
Denkst du anjetzt von des Tods grau'nvoller Gewalt zu erlösen.

Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon
lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:

Auf, wofern du ihn liebst und deine Seel' ihn betrauert,
Siehe, so laß ihn zwar im Ungestümme der Feldschlacht
Sterben -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
Aber sobald ihn verlassen der Geist und der Odem des Lebens,
Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe,
Bis sie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes,
Wo ihn rühmlich bestatten die Brüder zugleich und Verwandten,
Mit Grabhügel und Säule; denn das ist Ehre der Todten.

In dieser Stelle erscheint das Verhängniß in der Milde einer stillen
Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerstreit
gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und

1 442 ff.

Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt
mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus
keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln
der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen
Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der
Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe
verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das
Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und
außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten
fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen
Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern
Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß er-
ſcheint
eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit
dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das
Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt
bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, 1
wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und
vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert:

Einen ſterblichen Mann längſt auserſeh’n dem Verhängniß
Denkſt du anjetzt von des Tods grau’nvoller Gewalt zu erlöſen.

Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon
lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort:

Auf, wofern du ihn liebſt und deine Seel’ ihn betrauert,
Siehe, ſo laß ihn zwar im Ungeſtümme der Feldſchlacht
Sterben — — — — — — — — — — — — —
Aber ſobald ihn verlaſſen der Geiſt und der Odem des Lebens,
Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe,
Bis ſie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes,
Wo ihn rühmlich beſtatten die Brüder zugleich und Verwandten,
Mit Grabhügel und Säule; denn das iſt Ehre der Todten.

In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen
Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit
gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und

1 442 ff.
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[647/0323] Es iſt höchſt auffallend, wenn man das homeriſche Epos ſelbſt mit den früheſten Werken der lyriſchen Poeſie vergleicht, in ihm durchaus keine Anregung des Unendlichen zu finden. Das Leben und Handeln der Menſchen bewegt ſich von der einen Seite betrachtet in der reinen Endlichkeit, aber eben deßwegen auch in der abſoluten Identität der Freiheit und Nothwendigkeit. Die Hülle, welche beide wie in der Knospe verſchließt, iſt noch nicht gebrochen, nirgends iſt Empörung gegen das Schickſal, obgleich Trotz gegen die Götter, weil dieſe ſelbſt nicht über- und außernatürlich ſind, ſondern mit in den Kreis menſchlicher Begebenheiten fallen. Man könnte einwenden, daß doch auch Homer ſchon die ſchwarzen Keren und das Verhängniß kenne, dem ſelbſt Zeus und die andern Götter unterworfen ſind. Dieß iſt wahr, aber das Verhängniß er- ſcheint eben deßwegen noch nicht als Schickſal, weil kein Widerſtreit dagegen erſcheint. Götter und Menſchen, die ganze Welt, die das Epos umfaßt, ſind in der höchſten Identität mit ihm dargeſtellt. Aeußerſt bedeutend iſt in dieſer Rückſicht die Stelle im 16. Geſang der Ilias, 1 wo Zeus ſeinen geliebten Sarpedon aus den Händen des Patroklos und vom Tode erretten will und Here ihn mit den Worten erinnert: Einen ſterblichen Mann längſt auserſeh’n dem Verhängniß Denkſt du anjetzt von des Tods grau’nvoller Gewalt zu erlöſen. Sie führt hierauf an, daß auch andere Götter, wenn er den Sarpedon lebend entrückte, das Gleiche für ihre Söhne begehrten, und fährt fort: Auf, wofern du ihn liebſt und deine Seel’ ihn betrauert, Siehe, ſo laß ihn zwar im Ungeſtümme der Feldſchlacht Sterben — — — — — — — — — — — — — Aber ſobald ihn verlaſſen der Geiſt und der Odem des Lebens, Gib ihn hinwegzutragen dem Tod und dem ruhigen Schlafe, Bis ſie gekommen zum Volk des weiten Lykierlandes, Wo ihn rühmlich beſtatten die Brüder zugleich und Verwandten, Mit Grabhügel und Säule; denn das iſt Ehre der Todten. In dieſer Stelle erſcheint das Verhängniß in der Milde einer ſtillen Nothwendigkeit, gegen die es noch keine Empörung, keinen Widerſtreit gibt, denn auch Zeus gehorcht der Here und 1 442 ff.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/323>, abgerufen am 21.11.2024.