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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Ueberwiegende; auch ist sie Christin, dahingegen in einer anderen weib-
lichen Gestalt aus dem Morgenlande die Tapferkeit mehr männlich als
siegend gezeichnet ist. Auch Orlando und Rinaldo machen einen starken
Gegensatz des Gebildeten und Ungebildeten. In dem Meer von Epi-
soden (um auch davon zu reden) und Zufällen tauchen die mannich-
fachen Gestalten unter und kommen wieder, stets kenntlich und von ein-
ander gesondert. Die Episoden sind hier die Novellen, die der Dichter
eingeflochten wie Cervantes in seinen Roman; sie sind sowohl sehr
rührenden und pathetischen, als muthwilligen Inhalts, wobei der Dichter
immer davon geht, als ob nichts geschehen wäre: mischt er Betrach-
tung ein, so geschieht es nie verweilend, sondern daß es gleich wieder
vorwärts geht, und ein neuer Horizont sich ihm wölbt.

Die Gleichmäßigkeit und Identität des Geistes dieser Dichtart ist
auch äußerlich ausgedrückt durch das am meisten identische Sylbenmaß
der Neueren, die Stanze. Es verlassen, wie Wieland, heißt die Form
des romantischen Epos selbst verlassen.

Die durch die Charakteristik von Ariosto schon angegebenen Cha-
raktere des romantischen Epos oder des Rittergedichts sind hin-
reichend, seine Verschiedenheit und Entgegensetzung mit dem antiken
Epos zu zeigen. Wir können das Wesen desselben so aussprechen: es
ist durch den Stoff episch, d. h. der Stoff ist mehr oder weniger uni-
versell, durch die Form aber ist es subjektiv, indem die Individualität
des Dichters dabei weit mehr in Anschlag kommt, nicht nur darin, daß er
die Begebenheit, welche er erzählt, beständig mit der Reflexion begleitet,
sondern auch in der Anordnung des Ganzen, die nicht aus dem Gegen-
stand selbst sich entwickelt, und weil sie die Sache des Dichters ist, über-
haupt keine andere Schönheit als die Schönheit der Willkür bewundern
läßt. An und für sich schon gleicht der romantisch-epische Stoff einem wild
verwachsenen Wald voll eigenthümlicher Gestalten, einem Labyrinth, in
dem es keinen andern Leitfaden gibt als den Muthwillen und die Laune
des Dichters. Wir können schon hieraus begreifen, daß das romantische
Epos weder die höchste, noch die einzige Art ist, in welcher diese Gat-
tung (das Epos nämlich) in der modernen Welt überhaupt existiren kann.

Ueberwiegende; auch iſt ſie Chriſtin, dahingegen in einer anderen weib-
lichen Geſtalt aus dem Morgenlande die Tapferkeit mehr männlich als
ſiegend gezeichnet iſt. Auch Orlando und Rinaldo machen einen ſtarken
Gegenſatz des Gebildeten und Ungebildeten. In dem Meer von Epi-
ſoden (um auch davon zu reden) und Zufällen tauchen die mannich-
fachen Geſtalten unter und kommen wieder, ſtets kenntlich und von ein-
ander geſondert. Die Epiſoden ſind hier die Novellen, die der Dichter
eingeflochten wie Cervantes in ſeinen Roman; ſie ſind ſowohl ſehr
rührenden und pathetiſchen, als muthwilligen Inhalts, wobei der Dichter
immer davon geht, als ob nichts geſchehen wäre: miſcht er Betrach-
tung ein, ſo geſchieht es nie verweilend, ſondern daß es gleich wieder
vorwärts geht, und ein neuer Horizont ſich ihm wölbt.

Die Gleichmäßigkeit und Identität des Geiſtes dieſer Dichtart iſt
auch äußerlich ausgedrückt durch das am meiſten identiſche Sylbenmaß
der Neueren, die Stanze. Es verlaſſen, wie Wieland, heißt die Form
des romantiſchen Epos ſelbſt verlaſſen.

Die durch die Charakteriſtik von Arioſto ſchon angegebenen Cha-
raktere des romantiſchen Epos oder des Rittergedichts ſind hin-
reichend, ſeine Verſchiedenheit und Entgegenſetzung mit dem antiken
Epos zu zeigen. Wir können das Weſen deſſelben ſo ausſprechen: es
iſt durch den Stoff epiſch, d. h. der Stoff iſt mehr oder weniger uni-
verſell, durch die Form aber iſt es ſubjektiv, indem die Individualität
des Dichters dabei weit mehr in Anſchlag kommt, nicht nur darin, daß er
die Begebenheit, welche er erzählt, beſtändig mit der Reflexion begleitet,
ſondern auch in der Anordnung des Ganzen, die nicht aus dem Gegen-
ſtand ſelbſt ſich entwickelt, und weil ſie die Sache des Dichters iſt, über-
haupt keine andere Schönheit als die Schönheit der Willkür bewundern
läßt. An und für ſich ſchon gleicht der romantiſch-epiſche Stoff einem wild
verwachſenen Wald voll eigenthümlicher Geſtalten, einem Labyrinth, in
dem es keinen andern Leitfaden gibt als den Muthwillen und die Laune
des Dichters. Wir können ſchon hieraus begreifen, daß das romantiſche
Epos weder die höchſte, noch die einzige Art iſt, in welcher dieſe Gat-
tung (das Epos nämlich) in der modernen Welt überhaupt exiſtiren kann.

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[672/0348] Ueberwiegende; auch iſt ſie Chriſtin, dahingegen in einer anderen weib- lichen Geſtalt aus dem Morgenlande die Tapferkeit mehr männlich als ſiegend gezeichnet iſt. Auch Orlando und Rinaldo machen einen ſtarken Gegenſatz des Gebildeten und Ungebildeten. In dem Meer von Epi- ſoden (um auch davon zu reden) und Zufällen tauchen die mannich- fachen Geſtalten unter und kommen wieder, ſtets kenntlich und von ein- ander geſondert. Die Epiſoden ſind hier die Novellen, die der Dichter eingeflochten wie Cervantes in ſeinen Roman; ſie ſind ſowohl ſehr rührenden und pathetiſchen, als muthwilligen Inhalts, wobei der Dichter immer davon geht, als ob nichts geſchehen wäre: miſcht er Betrach- tung ein, ſo geſchieht es nie verweilend, ſondern daß es gleich wieder vorwärts geht, und ein neuer Horizont ſich ihm wölbt. Die Gleichmäßigkeit und Identität des Geiſtes dieſer Dichtart iſt auch äußerlich ausgedrückt durch das am meiſten identiſche Sylbenmaß der Neueren, die Stanze. Es verlaſſen, wie Wieland, heißt die Form des romantiſchen Epos ſelbſt verlaſſen. Die durch die Charakteriſtik von Arioſto ſchon angegebenen Cha- raktere des romantiſchen Epos oder des Rittergedichts ſind hin- reichend, ſeine Verſchiedenheit und Entgegenſetzung mit dem antiken Epos zu zeigen. Wir können das Weſen deſſelben ſo ausſprechen: es iſt durch den Stoff epiſch, d. h. der Stoff iſt mehr oder weniger uni- verſell, durch die Form aber iſt es ſubjektiv, indem die Individualität des Dichters dabei weit mehr in Anſchlag kommt, nicht nur darin, daß er die Begebenheit, welche er erzählt, beſtändig mit der Reflexion begleitet, ſondern auch in der Anordnung des Ganzen, die nicht aus dem Gegen- ſtand ſelbſt ſich entwickelt, und weil ſie die Sache des Dichters iſt, über- haupt keine andere Schönheit als die Schönheit der Willkür bewundern läßt. An und für ſich ſchon gleicht der romantiſch-epiſche Stoff einem wild verwachſenen Wald voll eigenthümlicher Geſtalten, einem Labyrinth, in dem es keinen andern Leitfaden gibt als den Muthwillen und die Laune des Dichters. Wir können ſchon hieraus begreifen, daß das romantiſche Epos weder die höchſte, noch die einzige Art iſt, in welcher dieſe Gat- tung (das Epos nämlich) in der modernen Welt überhaupt exiſtiren kann.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/348>, abgerufen am 21.11.2024.