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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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bei einer gewissen Beschränktheit des Stoffes durch die Form die Allge-
meingültigkeit des Epos annimmt, muß man nun allerdings noch über-
haupt romantische Bücher gelten lassen. Ich verweise dahin --
nicht die Novellen und Mährchen, die für sich bestehen als wahre My-
then (in den unsterblichen Novellen des Boccaccio) aus wirklichem oder
phantastischem Gebiet, und die ebenfalls sich im äußern Element rhyth-
mischer Prosa bewegen, sondern anderes gemischtes Vortreffliches,
wie den Persiles des Cervantes, die Fiammetta des Boccaccio, allen-
falls auch den Werther, der übrigens ganz in die Jugend und den sich
mißverstehenden Versuch der in Goethe wiedergeborenen Poesie zurück-
geschoben werden muß, ein lyrisch-leidenschaftliches Poem von großer
materieller Kraft, obwohl die Scene ganz innerlich und nur im Ge-
müth liegt.

Was die gepriesenen englischen Romane betrifft, so halte ich
den Tom Jones für ein mit derben Farben aufgetragenes nicht Welt-
sondern Sittengemälde, wo auch der moralische Gegensatz zwischen einem
ganz niedrigen Heuchler und einem gesunden, aufrichtigen jungen Men-
schen etwas grob durchgeführt ist mit mimischem Talent, aber ohne
alle romantischen und zarten Bestandtheile. Richardson ist in der Pamela
und dem Grandison wenig mehr als ein moralischer Schriftsteller; in
der Clarissa zeigt er eine wahrhaft objektive Darstellungsgabe, nur in
Pedanterie und Weitläufigkeit eingewickelt. Nicht romantisch, aber ob-
jektiv und ungefähr in der Art der Idylle allgemein gültig ist der Land-
prediger von Wakefield.

(Erwähnung der Romanze und Ballade, deren Charakter nicht
scharf gesondert ist, doch daß man jene als die subjektivere, diese als die
objektivere Form ansehen kann.)

Wir haben den Kreis der epischen Formen, wiefern sie im Geist
der modernen und romantischen Poesie möglich sind, durchlaufen. Es ist
noch die Frage übrig nach der Möglichkeit der antik-epischen Form für die
Dichter der neueren Zeit. Früher schon war von den mißlungenen
Versuchen dieser Art die Rede. Das erste, wornach sich der Dichter
umzusehen hätte, wäre allerdings der Stoff, welcher seiner Natur nach

bei einer gewiſſen Beſchränktheit des Stoffes durch die Form die Allge-
meingültigkeit des Epos annimmt, muß man nun allerdings noch über-
haupt romantiſche Bücher gelten laſſen. Ich verweiſe dahin —
nicht die Novellen und Mährchen, die für ſich beſtehen als wahre My-
then (in den unſterblichen Novellen des Boccaccio) aus wirklichem oder
phantaſtiſchem Gebiet, und die ebenfalls ſich im äußern Element rhyth-
miſcher Proſa bewegen, ſondern anderes gemiſchtes Vortreffliches,
wie den Perſiles des Cervantes, die Fiammetta des Boccaccio, allen-
falls auch den Werther, der übrigens ganz in die Jugend und den ſich
mißverſtehenden Verſuch der in Goethe wiedergeborenen Poeſie zurück-
geſchoben werden muß, ein lyriſch-leidenſchaftliches Poem von großer
materieller Kraft, obwohl die Scene ganz innerlich und nur im Ge-
müth liegt.

Was die geprieſenen engliſchen Romane betrifft, ſo halte ich
den Tom Jones für ein mit derben Farben aufgetragenes nicht Welt-
ſondern Sittengemälde, wo auch der moraliſche Gegenſatz zwiſchen einem
ganz niedrigen Heuchler und einem geſunden, aufrichtigen jungen Men-
ſchen etwas grob durchgeführt iſt mit mimiſchem Talent, aber ohne
alle romantiſchen und zarten Beſtandtheile. Richardſon iſt in der Pamela
und dem Grandiſon wenig mehr als ein moraliſcher Schriftſteller; in
der Clariſſa zeigt er eine wahrhaft objektive Darſtellungsgabe, nur in
Pedanterie und Weitläufigkeit eingewickelt. Nicht romantiſch, aber ob-
jektiv und ungefähr in der Art der Idylle allgemein gültig iſt der Land-
prediger von Wakefield.

(Erwähnung der Romanze und Ballade, deren Charakter nicht
ſcharf geſondert iſt, doch daß man jene als die ſubjektivere, dieſe als die
objektivere Form anſehen kann.)

Wir haben den Kreis der epiſchen Formen, wiefern ſie im Geiſt
der modernen und romantiſchen Poeſie möglich ſind, durchlaufen. Es iſt
noch die Frage übrig nach der Möglichkeit der antik-epiſchen Form für die
Dichter der neueren Zeit. Früher ſchon war von den mißlungenen
Verſuchen dieſer Art die Rede. Das erſte, wornach ſich der Dichter
umzuſehen hätte, wäre allerdings der Stoff, welcher ſeiner Natur nach

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[683/0359] bei einer gewiſſen Beſchränktheit des Stoffes durch die Form die Allge- meingültigkeit des Epos annimmt, muß man nun allerdings noch über- haupt romantiſche Bücher gelten laſſen. Ich verweiſe dahin — nicht die Novellen und Mährchen, die für ſich beſtehen als wahre My- then (in den unſterblichen Novellen des Boccaccio) aus wirklichem oder phantaſtiſchem Gebiet, und die ebenfalls ſich im äußern Element rhyth- miſcher Proſa bewegen, ſondern anderes gemiſchtes Vortreffliches, wie den Perſiles des Cervantes, die Fiammetta des Boccaccio, allen- falls auch den Werther, der übrigens ganz in die Jugend und den ſich mißverſtehenden Verſuch der in Goethe wiedergeborenen Poeſie zurück- geſchoben werden muß, ein lyriſch-leidenſchaftliches Poem von großer materieller Kraft, obwohl die Scene ganz innerlich und nur im Ge- müth liegt. Was die geprieſenen engliſchen Romane betrifft, ſo halte ich den Tom Jones für ein mit derben Farben aufgetragenes nicht Welt- ſondern Sittengemälde, wo auch der moraliſche Gegenſatz zwiſchen einem ganz niedrigen Heuchler und einem geſunden, aufrichtigen jungen Men- ſchen etwas grob durchgeführt iſt mit mimiſchem Talent, aber ohne alle romantiſchen und zarten Beſtandtheile. Richardſon iſt in der Pamela und dem Grandiſon wenig mehr als ein moraliſcher Schriftſteller; in der Clariſſa zeigt er eine wahrhaft objektive Darſtellungsgabe, nur in Pedanterie und Weitläufigkeit eingewickelt. Nicht romantiſch, aber ob- jektiv und ungefähr in der Art der Idylle allgemein gültig iſt der Land- prediger von Wakefield. (Erwähnung der Romanze und Ballade, deren Charakter nicht ſcharf geſondert iſt, doch daß man jene als die ſubjektivere, dieſe als die objektivere Form anſehen kann.) Wir haben den Kreis der epiſchen Formen, wiefern ſie im Geiſt der modernen und romantiſchen Poeſie möglich ſind, durchlaufen. Es iſt noch die Frage übrig nach der Möglichkeit der antik-epiſchen Form für die Dichter der neueren Zeit. Früher ſchon war von den mißlungenen Verſuchen dieſer Art die Rede. Das erſte, wornach ſich der Dichter umzuſehen hätte, wäre allerdings der Stoff, welcher ſeiner Natur nach

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 683. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/359>, abgerufen am 24.11.2024.