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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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der antik-epischen Behandlung fähig wäre. Entweder könnte er nun
selbst einen antiken Stoff wählen, der sich dem epischen Ganzen der
Griechen anschlöße, oder wenigstens in den Kreis der epischen Mythologie
gehörte. Oder er müßte einen Stoff der neueren Zeit auswählen.
Aus der Geschichte ihn zu wählen würde darum unmöglich seyn, weil
1) was auch von der Geschichte episch abgesondert wird, immer nur
zufällig abgesondert scheinen wird, 2) weil die Motive, die Sitten,
Gebräuche, die mit zu der Geschichte gehören, nothwendig modern seyn
müßten, wie wenn ein Dichter die Geschichte der Kreuzzüge antik-episch
behandeln wollte.

Am ehesten vielleicht wäre der epische Stoff von der Grenze der
antiken und modernen Zeit zu nehmen, weil durch den Gegensatz des Hei-
denthums selbst das Christenthum eine höhere Farbe gewänne und sogar
das Ansehen annehmen könnte, welches in der Odyssee das Fabelhafte
der Sitten der Völker z. B. und das Wunderbare mancher Länder
oder Inseln hat. Mit Einem Wort das Christenthum wäre in dieser
Entgegensetzung einer wahrhaft objektiven Behandlung am fähigsten.
Man würde ein solches Epos nicht als ein bloßes Studium nach der
Antike betrachten können, es wäre einer einheimischen und eigenthüm-
lichen Kraft und Farbe fähig. Aber abgesehen von diesem Einen Mo-
ment der Zeit, welcher selbst der Wendepunkt der alten und neuen ist,
möchte sich in der ganzen späteren Geschichte kein allgemein gültiges
Ereigniß und eine der epischen Darstellung fähige Begebenheit finden.
Sie müßte nämlich, wie der trojanische Krieg, außerdem daß sie allge-
mein, zugleich national und volksmäßig seyn, da der epische Dichter
vor allen andern der populärste zu seyn streben muß, und die Popula-
rität nur in lebendiger Wahrheit und in der Beglaubigung durch Sitte
und Ueberlieferung gefunden werden kann. Die Handlung müßte zu-
gleich jener Ausführlichkeit in der Behandlung des Details der Erzäh-
lung, welche zum epischen Styl gehört, fähig seyn. Aber schwerlich
möchte irgend ein diese Bedingungen erfüllender Stoff in der neueren
Welt aufzufinden seyn, am wenigsten der der letzten Forderung ent-
spräche, da in den Kriegen z. B. die Persönlichkeit gleichsam aufgehoben

der antik-epiſchen Behandlung fähig wäre. Entweder könnte er nun
ſelbſt einen antiken Stoff wählen, der ſich dem epiſchen Ganzen der
Griechen anſchlöße, oder wenigſtens in den Kreis der epiſchen Mythologie
gehörte. Oder er müßte einen Stoff der neueren Zeit auswählen.
Aus der Geſchichte ihn zu wählen würde darum unmöglich ſeyn, weil
1) was auch von der Geſchichte epiſch abgeſondert wird, immer nur
zufällig abgeſondert ſcheinen wird, 2) weil die Motive, die Sitten,
Gebräuche, die mit zu der Geſchichte gehören, nothwendig modern ſeyn
müßten, wie wenn ein Dichter die Geſchichte der Kreuzzüge antik-epiſch
behandeln wollte.

Am eheſten vielleicht wäre der epiſche Stoff von der Grenze der
antiken und modernen Zeit zu nehmen, weil durch den Gegenſatz des Hei-
denthums ſelbſt das Chriſtenthum eine höhere Farbe gewänne und ſogar
das Anſehen annehmen könnte, welches in der Odyſſee das Fabelhafte
der Sitten der Völker z. B. und das Wunderbare mancher Länder
oder Inſeln hat. Mit Einem Wort das Chriſtenthum wäre in dieſer
Entgegenſetzung einer wahrhaft objektiven Behandlung am fähigſten.
Man würde ein ſolches Epos nicht als ein bloßes Studium nach der
Antike betrachten können, es wäre einer einheimiſchen und eigenthüm-
lichen Kraft und Farbe fähig. Aber abgeſehen von dieſem Einen Mo-
ment der Zeit, welcher ſelbſt der Wendepunkt der alten und neuen iſt,
möchte ſich in der ganzen ſpäteren Geſchichte kein allgemein gültiges
Ereigniß und eine der epiſchen Darſtellung fähige Begebenheit finden.
Sie müßte nämlich, wie der trojaniſche Krieg, außerdem daß ſie allge-
mein, zugleich national und volksmäßig ſeyn, da der epiſche Dichter
vor allen andern der populärſte zu ſeyn ſtreben muß, und die Popula-
rität nur in lebendiger Wahrheit und in der Beglaubigung durch Sitte
und Ueberlieferung gefunden werden kann. Die Handlung müßte zu-
gleich jener Ausführlichkeit in der Behandlung des Details der Erzäh-
lung, welche zum epiſchen Styl gehört, fähig ſeyn. Aber ſchwerlich
möchte irgend ein dieſe Bedingungen erfüllender Stoff in der neueren
Welt aufzufinden ſeyn, am wenigſten der der letzten Forderung ent-
ſpräche, da in den Kriegen z. B. die Perſönlichkeit gleichſam aufgehoben

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[684/0360] der antik-epiſchen Behandlung fähig wäre. Entweder könnte er nun ſelbſt einen antiken Stoff wählen, der ſich dem epiſchen Ganzen der Griechen anſchlöße, oder wenigſtens in den Kreis der epiſchen Mythologie gehörte. Oder er müßte einen Stoff der neueren Zeit auswählen. Aus der Geſchichte ihn zu wählen würde darum unmöglich ſeyn, weil 1) was auch von der Geſchichte epiſch abgeſondert wird, immer nur zufällig abgeſondert ſcheinen wird, 2) weil die Motive, die Sitten, Gebräuche, die mit zu der Geſchichte gehören, nothwendig modern ſeyn müßten, wie wenn ein Dichter die Geſchichte der Kreuzzüge antik-epiſch behandeln wollte. Am eheſten vielleicht wäre der epiſche Stoff von der Grenze der antiken und modernen Zeit zu nehmen, weil durch den Gegenſatz des Hei- denthums ſelbſt das Chriſtenthum eine höhere Farbe gewänne und ſogar das Anſehen annehmen könnte, welches in der Odyſſee das Fabelhafte der Sitten der Völker z. B. und das Wunderbare mancher Länder oder Inſeln hat. Mit Einem Wort das Chriſtenthum wäre in dieſer Entgegenſetzung einer wahrhaft objektiven Behandlung am fähigſten. Man würde ein ſolches Epos nicht als ein bloßes Studium nach der Antike betrachten können, es wäre einer einheimiſchen und eigenthüm- lichen Kraft und Farbe fähig. Aber abgeſehen von dieſem Einen Mo- ment der Zeit, welcher ſelbſt der Wendepunkt der alten und neuen iſt, möchte ſich in der ganzen ſpäteren Geſchichte kein allgemein gültiges Ereigniß und eine der epiſchen Darſtellung fähige Begebenheit finden. Sie müßte nämlich, wie der trojaniſche Krieg, außerdem daß ſie allge- mein, zugleich national und volksmäßig ſeyn, da der epiſche Dichter vor allen andern der populärſte zu ſeyn ſtreben muß, und die Popula- rität nur in lebendiger Wahrheit und in der Beglaubigung durch Sitte und Ueberlieferung gefunden werden kann. Die Handlung müßte zu- gleich jener Ausführlichkeit in der Behandlung des Details der Erzäh- lung, welche zum epiſchen Styl gehört, fähig ſeyn. Aber ſchwerlich möchte irgend ein dieſe Bedingungen erfüllender Stoff in der neueren Welt aufzufinden ſeyn, am wenigſten der der letzten Forderung ent- ſpräche, da in den Kriegen z. B. die Perſönlichkeit gleichſam aufgehoben

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 684. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/360>, abgerufen am 21.11.2024.