oder sich über sie erheben. Im ersten Fall aber würde der Haupt- held unterliegen, im andern würde vielmehr die Freiheit ihre Ueber- macht über die Nothwendigkeit beweisen, welches aber nicht der Fall seyn soll.
Wir können also als ausgemacht Folgendes annehmen. Im lyri- schen Gedicht ist ein Widerstreit, aber selbst bloß ein subjektiver; es kommt überhaupt nicht zum objektiven Conflikt mit der Nothwendigkeit. Im epischen Gedicht herrscht nur die Nothwendigkeit, die insofern mit dem Subjekt eins seyn muß als, ohne dieß, einer von den beiden Fällen eintreten müßte; und so also auch muß Unglück, inwiefern es auf der einen Seite stattfindet, durch ein verhältnißmäßiges Glück auf der andern ersetzt werden.
Wenn wir nun diesen Grundsätzen zufolge ganz allgemein, und ohne noch irgend eine besondere Form vor Augen zu haben, fragen, von welcher Art dasjenige Gedicht seyn müßte, welches als die Tota- lität die Synthese der beiden entgegengesetzten Formen wäre, so ergibt sich gleich unmittelbar als erste Bestimmung folgende: es muß in dem Gedicht dieser Art ein wirklicher und demnach objektiver Widerstreit beider, der Freiheit und der Nothwendigkeit, da seyn, und zwar so daß beide als solche erscheinen.
Es kann also in einem Gedicht, wie das angenommne, weder ein bloß subjektiver Streit noch auch eine reine Nothwendigkeit -- die insofern mit dem Subjekt befreundet ist, und bloß darum aufhört Nothwendigkeit zu seyn -- sondern nur eine mit der Freiheit wirk- lich im Kampf begriffene Nothwendigkeit, und dennoch so, daß ein Gleichgewicht beider, dargestellt werden. Es fragt sich nur, wie dieß möglich sey.
Kein wahrhafter Streit ist, wo nicht die Möglichkeit obzusiegen auf beiden Seiten ist. Aber diese scheint in dem angenommenen Fall von beiden Seiten undenkbar: denn keines von beiden ist wahrhaft über- windlich; die Nothwendigkeit nicht, denn, würde sie überwunden, so wäre sie nicht Nothwendigkeit; die Freiheit nicht, denn sie ist eben deß- wegen Freiheit, weil sie nicht überwunden werden kann. Aber selbst
Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 44
oder ſich über ſie erheben. Im erſten Fall aber würde der Haupt- held unterliegen, im andern würde vielmehr die Freiheit ihre Ueber- macht über die Nothwendigkeit beweiſen, welches aber nicht der Fall ſeyn ſoll.
Wir können alſo als ausgemacht Folgendes annehmen. Im lyri- ſchen Gedicht iſt ein Widerſtreit, aber ſelbſt bloß ein ſubjektiver; es kommt überhaupt nicht zum objektiven Conflikt mit der Nothwendigkeit. Im epiſchen Gedicht herrſcht nur die Nothwendigkeit, die inſofern mit dem Subjekt eins ſeyn muß als, ohne dieß, einer von den beiden Fällen eintreten müßte; und ſo alſo auch muß Unglück, inwiefern es auf der einen Seite ſtattfindet, durch ein verhältnißmäßiges Glück auf der andern erſetzt werden.
Wenn wir nun dieſen Grundſätzen zufolge ganz allgemein, und ohne noch irgend eine beſondere Form vor Augen zu haben, fragen, von welcher Art dasjenige Gedicht ſeyn müßte, welches als die Tota- lität die Syntheſe der beiden entgegengeſetzten Formen wäre, ſo ergibt ſich gleich unmittelbar als erſte Beſtimmung folgende: es muß in dem Gedicht dieſer Art ein wirklicher und demnach objektiver Widerſtreit beider, der Freiheit und der Nothwendigkeit, da ſeyn, und zwar ſo daß beide als ſolche erſcheinen.
Es kann alſo in einem Gedicht, wie das angenommne, weder ein bloß ſubjektiver Streit noch auch eine reine Nothwendigkeit — die inſofern mit dem Subjekt befreundet iſt, und bloß darum aufhört Nothwendigkeit zu ſeyn — ſondern nur eine mit der Freiheit wirk- lich im Kampf begriffene Nothwendigkeit, und dennoch ſo, daß ein Gleichgewicht beider, dargeſtellt werden. Es fragt ſich nur, wie dieß möglich ſey.
Kein wahrhafter Streit iſt, wo nicht die Möglichkeit obzuſiegen auf beiden Seiten iſt. Aber dieſe ſcheint in dem angenommenen Fall von beiden Seiten undenkbar: denn keines von beiden iſt wahrhaft über- windlich; die Nothwendigkeit nicht, denn, würde ſie überwunden, ſo wäre ſie nicht Nothwendigkeit; die Freiheit nicht, denn ſie iſt eben deß- wegen Freiheit, weil ſie nicht überwunden werden kann. Aber ſelbſt
Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 44
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oder ſich über ſie erheben. Im erſten Fall aber würde der Haupt-
held unterliegen, im andern würde vielmehr die Freiheit ihre Ueber-
macht über die Nothwendigkeit beweiſen, welches aber nicht der Fall
ſeyn ſoll.
Wir können alſo als ausgemacht Folgendes annehmen. Im lyri-
ſchen Gedicht iſt ein Widerſtreit, aber ſelbſt bloß ein ſubjektiver; es
kommt überhaupt nicht zum objektiven Conflikt mit der Nothwendigkeit.
Im epiſchen Gedicht herrſcht nur die Nothwendigkeit, die inſofern
mit dem Subjekt eins ſeyn muß als, ohne dieß, einer von den beiden
Fällen eintreten müßte; und ſo alſo auch muß Unglück, inwiefern es
auf der einen Seite ſtattfindet, durch ein verhältnißmäßiges Glück auf
der andern erſetzt werden.
Wenn wir nun dieſen Grundſätzen zufolge ganz allgemein, und
ohne noch irgend eine beſondere Form vor Augen zu haben, fragen,
von welcher Art dasjenige Gedicht ſeyn müßte, welches als die Tota-
lität die Syntheſe der beiden entgegengeſetzten Formen wäre, ſo ergibt
ſich gleich unmittelbar als erſte Beſtimmung folgende: es muß in dem
Gedicht dieſer Art ein wirklicher und demnach objektiver Widerſtreit
beider, der Freiheit und der Nothwendigkeit, da ſeyn, und zwar ſo daß
beide als ſolche erſcheinen.
Es kann alſo in einem Gedicht, wie das angenommne, weder ein
bloß ſubjektiver Streit noch auch eine reine Nothwendigkeit — die
inſofern mit dem Subjekt befreundet iſt, und bloß darum aufhört
Nothwendigkeit zu ſeyn — ſondern nur eine mit der Freiheit wirk-
lich im Kampf begriffene Nothwendigkeit, und dennoch ſo, daß ein
Gleichgewicht beider, dargeſtellt werden. Es fragt ſich nur, wie dieß
möglich ſey.
Kein wahrhafter Streit iſt, wo nicht die Möglichkeit obzuſiegen
auf beiden Seiten iſt. Aber dieſe ſcheint in dem angenommenen Fall
von beiden Seiten undenkbar: denn keines von beiden iſt wahrhaft über-
windlich; die Nothwendigkeit nicht, denn, würde ſie überwunden, ſo
wäre ſie nicht Nothwendigkeit; die Freiheit nicht, denn ſie iſt eben deß-
wegen Freiheit, weil ſie nicht überwunden werden kann. Aber ſelbſt
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 689. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/365>, abgerufen am 22.11.2024.
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